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Rezensionen-Interviews

Der verirrte Messias

Oliver Jungen, F.A.Z. 22.12.2009
Karl-Markus Gauß, Neue Zürcher Zeitung 12.10.2009
Walter Grünzweig, Der Standard 25.7.2009
Peter Pisa, Kurier 25.7.2009 – Rezension und Interview
Brigitte Schwens-Harrant, Die Presse 31.7.2009
Norbert Mayer, Die Presse 8.8.2009 – Interview
Christian Schachenreiter, OÖ Nachrichten 12.8.2009

 

JESUS WAR EIN FRÜHCHEN

Oliver Jungen, F.A.Z.

Die Wandlung des biblischen Mythos in aufregende Prosa: Peter Henisch hat einen sensiblen Sensationsroman geschrieben, der uns Weihnachten verbittersüßt.
Ungeheuerlich, dass niemand bislang darauf gekommen ist. Dabei erklärte das vieles, das Ausbleiben des Weltendes zum Beispiel, vor allem aber das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom: bis zuletzt ruhelos, von einer Wunderlichkeit zur nächsten jagend. Jetzt ist es also heraus: Jesus war ein Frühchen, deshalb auch so unbequem zur Welt gekommen, verfrüht um die kosmische Winzigkeit von zweitausend Jahren: „Konnte es wirklich so gewesen sein? Dass er damals einfach zu früh in die Welt gefallen war? Dem Mädchen Mirjam in den Schoß gefallen? Das wäre ein Navigationsfehler mit fatalen Folgen.“

Wer fragt sich das? Es ist der hochsensible, dreißigjährige Mischa, der nicht umsonst Myschkin heißt wie Dostojewskis „Idiot“, die große Erlösergestalt der Moderne, sondern der sich auch Jeschua nennt, Mischa also, der Berufene, der Wiedergekehrte, der verirrte Messias auf tiefenpsychologischer Regressionsreise: „Und indem er vorwärtsging, hatte er das Gefühl, eigentlich zurückzugehen, zurück, zurück … Und nachdem er dann vorne, im Chor, über eine der Treppen (die linke), in die sogenannte Geburtsgrotte hinuntergestiegen war, habe er das Gefühl gehabt, endgültig im Uterus angelangt zu sein.“ In der Geburtskirche wird er heimgesucht vom Geist der Erinnerung – eigenen und kollektiven: „Die tragen wir doch alle in uns, wir müssen sie nur aktivieren. Manchmal werden sie uns vielleicht auch gesandt“ – und es wiederholt sich die augustinische Urszene, jedoch in leichter Abwandlung: Statt „Nimm und lies“ befiehlt ihm der Geist zu schreiben. Empfängnis ist in der Postmoderne zwar immer schon Sendung, hier aber geht es darum, dass die Tradition ab ovo überschrieben, dass ein ungeheuerlicher Irrtum korrigiert werden muss.

Mit viel theologischem Sachverstand und einer wohltuenden Portion Humor hat Peter Henisch Platons Anamnesis-Konzept mit der Heilsgeschichte kurzgeschlossen und daraus ein so bibelfestes wie den christlichen Glauben erschütterndes Mythos-Märchen geschaffen. Es ist charmant, dass sein leicht autistischer Held sich selbst erst im Laufe der Geschichte immer sicherer wird, was er im Gelobten Land eigentlich will: das größte Rätsel lösen nämlich. Die Frühchen-These zu Ende zu denken hieße schließlich, dass das Ende der Geschichte (in jeder Hinsicht) noch nicht erreicht wurde, dass man in einem Interim gefangen ist seit zwei Jahrtausenden. So wird es eine „Fahrt, von der viel, vielleicht alles, abhängt“. Und noch charmanter ist es, die imitatio christi ebenfalls in die andere Richtung auszubuchstabieren, alle Selbstzweifel, Sensibilität und Verwirrung auch dem Vorläufer, dem Bautischler aus Nazareth zuzugestehen, der hier gleichfalls orientierungslos durch die ganze Affäre stolpert. So kann über viele hundert Seiten eine Pointe reifen, die es in sich hat.

Wir erfahren vom Heiland 2.0 – wie es sich gehört – nur über eine Vermittlungsinstanz und insofern sehr konjunktivisch: Die Literaturkritikerin Barbara lernt den neurotischen Protagonisten auf einem Flug nach Tel Aviv kennen, bei einer Zwischenlandung im heiligen Rom noch näher kennen und empfängt nach ihrer Rückkehr Briefe des (so oder so) Erwählten. Im ersten Brief erklärt er, wann die Stigmata bluten, nur in bestimmten Erregungszuständen nämlich: Das hatte Barbara in der römisch-elegischen Nacht einen Schock versetzt. Mischa erweist sich dabei durchaus als Ironiker, ausgerechnet die Drogen- und Sexhymne „Let It Bleed“ der Rolling Stones nämlich habe ihm geholfen, die Bluterei zu ertragen. Von nun an berichtet er Barbara – und diese uns – detailliert über seine Reise zum Mittelpunkt der Lehre.

Von Nazareth aus pilgert dieser Jesus-Freak Jesu Leben ab, über das alte Sepphoris, Kana, vorbei am See Genezareth, den Jordan entlang, über Bethlehem, Tiberias und weitere geschichtsträchtige Orte bis nach Jerusalem, weicht aber immer häufiger von der vorgegebenen Route ab, auf der Flucht vor einem immer wieder auftauchenden „mutmaßlichen Clown“, dem Bösen in aktueller Gestalt: „Hingegen ähnelte er immer mehr dem nicht allzu lange Zeit zuvor gefeuerten amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.“ Ebenso durchlebt der von Rumsfeld Gejagte in Wiederholung die Annäherung Jesu an seine Gefährtin. Hier hält es der Autor, der überhaupt dem Körperlichen sein Recht zukommen lässt, mit den Apokryphen: Die Rolle der Maria Magdalena spielt Olga, die Frau eines russischen Oligarchen. Mehr und mehr wandelt sich die Reise im gegenwärtigen Israel allerdings zu einer Passionsgeschichte eigener Couleur. Der perpetuierte Kriegszustand, „die Kontinuität des alltäglichen Horrors“, spielt dabei eine gewisse Rolle, doch nicht daran verzweifelt der Held zuletzt.

Wir erfahren all das aber nicht mehr chronologisch, denn es gibt eine Zäsur in der Überlieferung: Bevor die Briefe nicht mehr eintreffen, hat sich die eifersüchtige Adressatin von ihnen bereits abgewandt. Mischa begegnet erst wieder als Gebrochener, die Konversion zum Islam erwägend. Verlottert, den Drogen ergeben und von seinen letzten Euros lebend, vegetiert er verängstigt in Rom vor sich hin: Es ist etwas geschehen in Israel. Mischa ist auf die Lücke im Heilsplan gestoßen. Sie war immer da, doch erst jetzt, in der nihilistischen Gegenwart, wird sichtbar, warum die Evangelien so unbefriedigend abreißen.

Damit aber bohrte sich eine alles aufsprengende Skepsis in die zuvor so tiefe Überzeugung Myschkins hinein: War vielleicht auch die Frömmigkeit des Vorläufers eine zu naive? „Und alles hatte mit der Auferweckung des Lazarus begonnen. Die eben vielleicht, ja wahrscheinlich, nur Illusion war. Eine Inszenierung, auf die der dumme Rabbi hineinfiel … Ein Fake der Jünger.“ Von hier ist es nicht mehr weit zum größtmöglichen Selbstzweifel, der totalen Häresie: Wäre er ohnmächtig, aber lebendig vom Kreuz genommen und nach Rom verbracht worden? Und tatsächlich: Bittet nicht, wie Markus im fünfzehnten Kapitel berichtet, der ehrbare Ratsherr Josef von Arimathia, um den Leichnam Jesu, den er auch erhält, obwohl sich Pilatus wundert, „dass er schon tot war“? „Nicht am Kreuz gestorben, nicht wirklich begraben, nicht abgestiegen zu den Toten, folglich nicht auferstanden! Wenn das die Wahrheit ist, dann bin ich ein Versager.“ Es bleibt aber natürlich – gut cartesianisch – dieses Ich (ich versage, also bin ich), um dessen Wiederaufrichtung inmitten religiöser Trümmer es im Folgenden zu tun ist.

Diese Handlung ist derart verquer, grellbunt, intelligent, aufdringlich, unlogisch und herrlich, mit einem Wort: christlich, dass man Peter Henisch die etwas altbacken wirkende Rahmenhandlung, in der eine ideale – und zwar diesseitige – Liebe aus Adoration, Begehren und Fürsorge entworfen wird, gern verzeiht. Der immer ein wenig unterschätzte Autor aus Wien führt damit fort, was er vor vier Jahren mit der Erzählung „Die schwangere Madonna“ – einer schwangeren Teenagerin nimmt sich hier ein freier Journalist an – begonnen hat: die poetologische Transsubstantiation des biblischen Mythos in aufregend gegenwärtige Prosa.

Am Ende wird Henisch lächelnd milde, stellt anheim, lässt Hintertüren weit offen. Aber auch, wer durch sie entwischt, wer diesen Mischa-Myschkin-Jeschua mit der klassischen Diagnose Schizophrenie loszuwerden gewillt ist, wird von nun an von einer Erinnerung eingeholt werden können, die jenen Urtext hiermit so klug überschrieben hat. Und scheint es nicht tatsächlich so, als würde die kleine Unstimmigkeit im allerhöchsten Zeitplan gerade behoben, als stehe die Apokalypse so unmittelbar bevor, dass selbst die größte Versammlung von Weltherrschern soeben in Kopenhagen die Welt einfach aufgegeben hat? Peter Henisch, dem Christkind sei es geklagt, hat uns das Weihnachtsfest mit einem großartigen Buch infernalisch versaut.

Jesus reloaded

Karl-Markus Gauß, Neue Zürcher Zeitung

In seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ hat Albert Schweitzer 1908 die Vermutung angestellt, dass Jesus dereinst wieder als Unbekannter unter die Menschen treten werde. Im neuen Roman des mit allen heiligen Wassern der Erzählkunst gewaschenen Peter Henisch kehrt Jesus nicht nur unerkannt auf die Erde zurück, sondern gar als Heimatloser, der seiner eigenen Identität nicht sicher ist.

Als Flüchtling hat Mischa Myschkin durch die Lektüre einer mehrsprachigen Ausgabe der Bibel Deutsch gelernt und dabei eine bestürzende Erfahrung gemacht: Alles, was er im Neuen Testament liest, mutet ihn nämlich vertraut an, er sieht die Schauplätze von Jesu Wundern vor sich, die Gesichter der Apostel, er hat das unabweisbare Gefühl, schon erlebt zu haben, wovon in den Evangelien berichtet wird. Kurz, in ihm wächst der schöne und schreckliche Verdacht, dass er bereits als jener Jeschua gelebt hat, dessen Kreuzestod der Christenheit die Erlösung verheisst. Nun befindet sich der Mann, der glaubt, er sei womöglich der wiedergekehrte Messias, auf dem Weg zu seinen historischen Wirkungsstätten, um sich in Israel und Palästina auf die eigene Spur zu setzen oder endlich die Gewissheit zu erlangen, dass er sich doch geirrt hat.

Der 1943 geborene Wiener Peter Henisch hat schon öfter mit christlichen Motiven, Figuren, Verheissungen gespielt – aber nie auf jene gerade in ihrem blasphemischen Furor so urkatholische Weise, für die die österreichische Literatur genügend grimmige Beispiele kennt; nein, Henisch ist die Sache stets mit respektvoller Ironie angegangen, und in einem Interview hat er zuletzt gemeint, dass sich die Literatur nicht weniger mit „der Sinnfrage“ und „der Erösung“ zu beschäftigen habe als die Religion. Liest man eine knappe Inhaltsangabe, wird einem bange: Kann das gutgehen? Es geht gut, denn Henisch, ein exzellenter Kenner der Evangelien, beherrscht nicht nur seinen Stoff, sondern vor allem das Handwerk des Romanciers.

Auf seiner theologischen Ebene gibt „Der verirrte Messias“ keine Antwort auf die Frage, die Myschkin quält, mit der er aber auch die deutsche Literaturkritikerin Barbara, die er im Flugzeug kennenlernt, wortreich behelligt: Ist er tatsächlich der Wiedergekehrte, mit dem das Ende aller irdischen Tage naht? „Die Apokalypse, ja, das war zu befürchten. Obwohl es nicht so aussah, als ob man ihn dazu noch brauchte.“ Gesetzt, es handelte sich bei ihm tatsächlich um Jesus, wäre er nicht jedenfalls zu spät dran, um die Menschheit zu retten? „Ich bin Jesus. Aber das nützt auch nichts mehr.“

Auf seiner zweiten Ebene erzählt der Roman die charmante Liebesgeschichte zwischen dem russischen Flüchtling, dessen Rededrang ziemlich penetrant ist, und jener rational denkenden Deutschen, die sich fürs Erste streng gegen die fortwährende „spirituelle Belästigung“ verwahrt, aber dann doch in den Bannkreis ihres sonderbaren Reisegefährten gerät. Was, wenn zwar Jesus nicht mehr die Menschheit, aber Barbara, aus deren Sicht der Roman erzählt wird, immerhin diesen einen Heimatlosen zu retten verstünde?

Jedenfalls schreibt Myschkin der Kritikerin, als sie längst wieder in Deutschland ist, einprägsame Briefe aus einem Land, das sich im Kriegszustand befindet. Ihn bedrängen Zweifel, ob sein Tod und seine Auferstehung von den Aposteln vor 2000 Jahren richtig überliefert und nicht absichtlich verfälscht wurden. Mehr noch bekümmert ihn, was er in dem Land sieht, das für heilig gilt und um das sich Israeli und Palästinenser heute so blutig streiten. Da wird der Roman, der ein theologisches Gedankenspiel und eine interkulturelle Liebesgeschichte zu bieten hatte, zur kundigen Reportage über den Nahen Osten. Dass all das in einem einzigen Roman zusammengeht, hat weniger mit einem Wunder als mit der gewissenhaften Erzählkunst des Peter Henisch zu tun.

DU KOMMST SPÄT, MESSIAS

Walter Grünzweig, Der Standard

In Peter Henischs neuem Roman fragt sich ein potenzieller Messias, ob er in Erscheinung treten und das Ende der Menschheit einleiten soll.
Typologien sind ein wichtiges Moment der jüdisch-christlichen Tradition. Das betrifft nicht nur relevante Verweise aus dem Alten ins Neue Testament (etwa von Isaak auf Christus, deren Gemeinsamkeit für die christliche Theologie in der Opferrolle besteht), sondern auch typologische Interventionen in „historischen“ Situationen. Etwa glaubten die Puritaner Neuenglands fest daran, dass sie das zweite Buch Moses nachvollzögen: In der Verfolgung durch England und seinen König fanden sie eine Analogie zur Gefangenschaft der Israeliten im Ägypten der Pharaonen; die biblische Flucht durch das Meer entsprach der Fahrt über den Atlantik; das Gelobte Land konnte nach dieser Logik nur eines sein – die Neue Welt. Auch andere biblische Typologien boten sich an: Wenn sich ein Puritaner beim Zusammentreffen mit den amerikanischen Ureinwohnern auf den missionarischen Spuren des neutestamentlichen Paulus wähnte, konnten die Indigenen noch von Glück reden, denn die Bibel bot auch ganz andere Modelle für den Umgang mit fremden Völkern.

Peter Henischs neuer Roman bedient sich auch der Typologie, allerdings auf eine sehr spezielle und höchst originelle Weise. Die in der Offenbarung des Johannes im letzten Teil des kanonischen Neuen Testaments angekündigte Wiederkunft Jesu erfolgt nicht als Rückkehr eines Weltenrichters. Vielmehr erscheint der potenzielle Messias wie zwei Millennien vorher in Menschengestalt – und zwar in der charakteristischen Figur eines staatenlosen Flüchtlings aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, der seine überraschenden sprachlichen Fähigkeiten und seine Kenntnisse der Heiligen Schrift in einem deutschen Flüchtlingslager mithilfe einer viersprachigen Gideon-Ausgabe des Neuen Testaments erworben hat.

Religiös motivierte Außenseiterfiguren sind Henischs Werk nicht fremd. Auch Pepi Prohaska, der „Prophet“ des gleichnamigen, erstmals 1986 erschienenen und 2006 überarbeiteten Romans, vermutet, dass Gott etwas Besonderes mit ihm vor hat. Er ist jedoch Prophet und kein Messias und in der ambivalent-ironischen Darstellung Henischs viel stärker der Selbst- und Kulturkritik der verspielten 68er verhaftet als Mischa Myschkin, der ganz deutlich der 89er-Generation zuzuordnen ist und sich den neuen, harten Realitäten der „globalisierten“ Welt stellen muss.

Wie Henischs vor einigen Jahren erschienenes Buch „Die Schwangere Madonna“ ist „Der verirrte Messias“ ein Reiseroman, allerdings einer komplexeren Sorte. Die etwas abgeklärte, beziehungs- und literaturgeschädigte deutsche Rezensentin Barbara – Österreich spielt in diesem Roman Henischs nur eine geringe Rolle – trifft auf einem Flug nach Israel auf den postsowjetischen Migranten. Für seine Andeutungen, er könne in Gottes Auftrag reisen und die letzte Phase der Heilsgeschichte einleiten, hat sie zunächst nur entrüstete Verachtung übrig – eine Haltung, die sich jedoch schnell in Schrecken wandelt, als sie kurz vor dem Beischlaf die charakteristischen Wundmale an ihm entdeckt.

Spirituelle Belästigung

Das Entsetzen der skeptischen Literaturkritikerin hat jedoch nicht so sehr mit diesen Grenzerfahrungen zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass ihr cooler, geschàftstüchtiger Rationalismus zwischen Buchmesse und Verlagsintrigen wesentlich weniger fundiert ist, als sie vermutet hatte. In einer komischen Reflexion wirft sie Mischa nicht sexuelle, sondern vielmehr „spirituelle Belästigung“ vor. Ihr erfolgloser Versuch, sich vom überwältigenden Einfluss dieses Messias zu befreien, weist deutlich auf die spirituellen Defizite der „westlichen“ Kultur – ein unpopuläres, unzeitgemäßes Thema, dessen sich Henisch in seinen Werken nie geschämt hat.

Zwar weigert sich Barbara, Mischa auf seiner Reise zu den Wirkungsstätten von „Jeschua“ zu begleiten; allerdings nur, um durch lange briefliche Berichte umso stärker in dessen Geschichte gezogen zu werden. Mischa versucht nämlich, sich in Israel und den besetzten Gebieten seines Auftrags gewiss zu werden. Als echten Henisch-Protagonisten zeichnet ihn sowohl Besessenheit wie Orientierungslosigkeit aus, ist er zugleich religiös motiviert und sexuell interessiert. Kein Wunder, dass der typologischen Beziehung zwischen Maria („Mirjam“) Magdalena und Barbara bzw. – in deren Absenz – auch Olga, der Gattin eines steinreichen russischen Oligarchen, breiter Raum gegeben wird, ein mit erotischer Energie geladener Raum, in dem sich allerdings der spirituelle Drang der Hauptfigur nicht verliert.

Mischas Suche nach seinen messianischen Wurzeln und Aufträgen führt zu einer faszinierenden parallelen – eben auch typologischen – Darstellung der nahöstlichen Situation vor zweitausend Jahren und heute, insbesondere der Unterwerfung des jüdischen Landes durch die Römer und der Okkupation palästinensischen Lands durch Israel. Der „Lokalaugenschein“ des neuen Messias resultiert jedoch nicht in plakativer tagespolitischer Kritik, sondern trägt zur Vertiefung des Problembewusstseins bei. Auch Figuren wie die vollschlanke, aus Barbaras eifersüchtiger Perspektive sexuell durchaus gefährliche Olga, ein ursprünglich aus Wien stammender, in der Geschichte der Messiaserscheinungen bewanderter Jude namens Edelmann sowie ein Donald-Rumsfeld-Lookalike (oder vielleicht gar Rumsfeld selbst), der den neuen Messias für die amerikanische christliche Rechte rekrutieren will, verbinden die Erlebnisse des Zeitenwanderers mit einem sehr konkreten Hier und Jetzt. Was da geboten wird, ist politische und Kulturkritik, ironisch, sarkastisch, bis an die Grenze zum Slapstick.

Ob Mischa nun tatsächlich ein Wiedergänger Jesu ist, bleibt selbstverständlich offen (und die Ereignisse um Barbara und Mischa im letzten Teil des Romans, der in Rom spielt, sollen der Spannung halber hier nicht erwähnt werden). Eine der Fragen, die sich Mischa immer wieder stellt, ist, ob er, sollte er als Messias „in Erscheinung treten [oder] … sich, um ein zeitgemäßeres Wort zu verwenden, „outen“, das Ende der Menschheitsgeschichte einleiten würde. Die ernüchternde Antwort darauf gibt er sich selber mit bitterem Humor: „Die Apokalypse, ja, das war zu befürchten. Obwohl es nicht so aussah, als ob man ihn dazu noch brauchte.“

Der Witz an Henischs Buch ist eben, dass dieser verirrte Messias im Grunde zu spät kommt. Auch ohne ihn scheint man an das Ende der Geschichte gekommen zu sein. Sodass das auf der Umschlagrückseite abgedruckte lapidare Statement, mit dem Mischa sich der Oligarchin Olga vorstellt, zu einer fast theologischen Aussage wird: „Ich bin Jesus, sagte er. Aber das nützt auch nichts.“ Dieses Eingeständnis messianischer Machtlosigkeit erinnert an den Jesus-Roman Norman Mailers, in dem der Messias ebenfalls Selbstzweifel und Orientierungslosigkeit Ausdruck gibt. Es negiert jedoch nicht Mischas Ringen um seine Identität und um die ihm gestellte Aufgabe. Gerade in der Beharrlichkeit, mit der er seine oft erfolglos scheinende Suche verfolgt, liegt das trotz allem optimistische Moment des Buchs.

Obwohl Henisch seinen ehemaligen Religionslehrer Adolf Holl in den Danksagungen erwähnt, ist sein Umgang mit der Schrift ein primär literarischer, der auf deren narrative Qualitäten abzielt. Gerade dadurch gelingt ihm der Brückenschlag zwischen den Zeiten: Der verirrte Messias übersetzt die neutestamentlichen Erzählungen in unser zielloses Zeitalter der Globalisierung.

OB ER WIRKLICH DIE WELT RETTEN SOLL?

Peter Pisa, Kurier

Neue und alte Jesus-Geschichten. Peter Henisch geht in „Der verirrte Messias“ volles Risiko. Und gewinnt. Weil er sich zwar spielt, aber ernst bleibt. „Bei den Evangelien kenne ich mich aus“: Peter Henisch hat den Roman seinem einstigen Religonslehrer Holl zum Kontrollieren gegeben, „aber er hat keine Fehler gefunden“.
Es war ein doppelter Schock. Zum einen, weil Peter Henisch den vertrauten Blick durchs trübe Wiener Fenster so demonstrativ verlassen hat und eine Deutsche namens Barbara auf den Frankfurter Flughafen setzt. Brauchen wir das von ihm? Von der Buchmesse kommt sie. Barbara ist Kritikerin und will ihre Halbschwester in Israel besuchen.

Ehe man sich fasst, redet jemand Barbara an.

Myschkin heißt er – ein Flüchtling aus Russland, der im Lager die Bibel studiert hat und sich erinnert: „Das bin doch ich! Jesus, das könnte ich sein!“

Myschkin geht sozusagen auf Lokalaugenschein. Er ist auf seiner eigenen Spur unterwegs. In Israel will er sich Klarheit verschaffen, ob er wirklich der wiederkehrende Messias ist und die Welt retten soll.

Oder ist die Welt damit sowieso zu Ende?

Wenn Myschkin aufgeregt ist, im Bett mit Barbara zum Beispiel, so blutet er an Händen und Füßen.
Und das ist der zweite Schock. Angst ist es: vor Henischs Scheitern. Aber weil er – zwar verspielt (ein Büchl von Dan Brown wird zornig weggeworfen) – ernst bei der Sache bleibt, scheitert er nicht.

Es wird genügend Leute geben, die damit nichts anfangen. Aber es funktioniert. Seltsam, dass es geht.

Es ist sogar erfreulich, zwischendurch alte Bibelgeschichten frisch erzählt zu bekommen. Schwer ist die Bedeutung, doch man folgt dem Weg nie niedergedrückt.

Und wird das Gefühl nicht los, einen solchen Roman um einen möglichen Jesus hätte der suspendierte Priester, Theologe und Autor Adolf Holl gern geschrieben.

Tatsâchlich war Holl im Gymnasium Ettenreichgasse Henischs Oberstufen-Religionslehrer …

KURIER: Warum kommen Sie uns mit Religion?

Peter Henisch: Man darf Religion nicht mit unserem Alpintrottelkatholizismus verwechseln. Die wirkliche Religion hat mir nichts angetan. Ich bin nicht geschädigt. Als junger Mann habe ich Camus gelesen und die Bibel. Wenn ich mich wo auskenne, dann bei den Evangelien. Die Sinnfrage, die Erlösung – das interessiert die Religion und die Literatur.

KURIER: Jesus surft bei Ihnen nicht übers Wasser.

Peter Henisch: Nein. Das wäre, an der Oberfläche zu bleiben. Ich bin in einem anderen Stockwerk. Bei mir ist das nicht nur ein Gag. Man kann ironisch damit umgehen. Aber ich denunziere den Ernst nicht. Es geht ja immerhin um Leben und Tod. Es geht darum, ob die Menschen zu retten sind.

KURIER: Zusätzlich ist „Der verirrte Messias“ noch eine Liebesgeschichte.

Peter Henisch: Und was für eine! Der Mann, der vielleicht Jesus ist, will die Welt retten. Aber eine Frau rettet ihn. Sie bringt ihn vom Heroin weg. Sie rettet ihn unter anderem mit Sex. Auch das noch.

KURIER: Rechnen Sie mit dem Vorwurf der Blasphemie?

Peter Henisch: Der Roman wird Feinde haben. Er spielt hier und jetzt, aber er geht zurück bis in Marias Mutterleib.

KURIER: Wünschen Sie sich, dass Jesus auftaucht und hilft?

Peter Henisch: Ich lass‘ ja lieber offen, ob es wirklich Jesus ist. Das könnte sonst peinlich werden. Brauchen, brauchen könnten wir ihn schon. Aber vielleicht genügen die 99 Gerechten, die die Welt im Geheimen aufrecht erhalten.

BLACKOUT IN JERUSALEM

Brigitte Schwens-Harrant, Die Presse

„Der verirrte Messias“: In Peter Henischs Roman will der russische Flühtling Mischa schon einmal gelebt haben – just als Jesus. Barbara, die Sitznachbarin im Flugzeug, glaubt ihm das nicht ganz.
„Schon viele haben versucht, eine fortlaufende Erzählung von den Ereignissen zusammenzustellen, die sich unter uns begeben haben“, zitiert Peter Henisch den Evangelisten Lukas, jenen „Fabulierer, der die Fakten, an die sich irgendwelche dubiosen Zeitzeugen angeblich erinnern, fürs hellenistische Publikum dekoriert.“ Dies meint Mischa, Held in „Der verirrte Messias“ und seinerseits ein glänzender Fabulierer vor dem Herrn, der seine Geschichten vor allem für sein staunendes Gegenüber, die Literaturkritikerin Barbara, aufs Feinste dekoriert.

Schon viele Autoren haben versucht, die neutestamentlichen Texte nachzuerzählen, für das je zeitgenössische Publikum aufzubereiten und auszuschmücken, die Sehnsucht nach Klatsch (hat Jesus nun mit Maria Magdalena, oder hat er nicht?) ebenso zu befriedigen wie die nach Erklärungen (wie war das mit der Auferstehung wirklich?). Viele Romane sind so entstanden, kitschige wie „Mirjam“ von Luise Rinser, provokante wie „Das Evangelium nach Jesus Christus“ von José Saramago – und es scheint kein Ende der Versuche zu geben, auch kein Ende des Begehrens der Leser nach mehr.

Nach mehr. Denn in gewisser Hinsicht sind die Evangelien enttäuschend verschwiegen, widersprüchlich auch. Wieso ist der Geist, der einen doch mit aller Wucht ergreift, eine Taube und kein Habicht? Wieso weiß Johannes nichts vom Abendmahl, die drei Synoptiker nichts von der Fußwaschung? (Eine Frage, die der polnische Autor Pawel Huelle in seinem neuesten Roman, „Das letzte Abendmahl“, übrigens zwei seiner Protagonisten diskutieren lässt.) Das Neue Testament: Textsorten aus unterschiedlichen Zeiten, mit unterschiedlichen Interessen und an unterschiedliche Adressaten gerichtet – und viele offene Fragen. Ungeheuerlichkeiten wie Wunder oder gar die Auferstehung, die überliefert, als „wahr“ und Kern des christlichen Glaubens empfunden wird, und die bleibenden nagenden Fragen: Wer erzählt da? Ist er glaubwürdig? Wo kann ich heute in dieser Welt die Erlösung sehen?

Die Evangelien provozieren – und veranlassen zum Ausmalen, Weiter- und Umerzählen. Jesus bekam mehr Kindheit, Maria Magdalena mutierte von der Berufenen zur Sünderin, um den männlichen Jüngern nicht mehr so gefährlich nahe zu stehen (und womöglich auch Nachfolge einzufordern): Jahrhundertelang schrieben nicht nur Exegeten, sondern auch bildende Künstler und Literaten die Bibel weiter – und die Ergebnisse erzählen viel über die jeweiligen Gestalter und ihre Projektionen. Kitschfallen stehen für all jene bereit, die sich künstlerisch der Bibel annehmen: psychologische und emotionale Ausschmückungen, die Wahl von Erzählperspektiven, die alles besser wissen und erklären können, historisierende Gewänder, unreflektierte Übernahme klischierter Bilder. Wie aber meidet man solche Fallen? Wie kann man sich im Jahre 2009 literarisch mit der Geschichte Jesu auseinandersetzen, und macht das überhaupt einen Sinn?

Messias mit Schafsprofil

Nicht um der Literaturgeschichte einen weiteren Jesusroman hinzuzufügen, greift Henisch die biblischen Geschichten auf: Nichts Geringeres als die Erlösung steht auf dem Spiel. Kenner seines Werks, etwa der Gedichte in „Hamlet, Hiob, Heine“ oder des Romans „Pepi Prohaska Prophet“, wird eine solche Thematik nicht überraschen. Den letzten Anstoß zum Schreiben dürfte aber ein anderer literarischer Versuch gegeben haben, jener der US-Autorin Anne Rice, die mit Vampirromanen berühmt wurde, dann aber beschloss, sich „ganz der Aufgabe zu widmen, Jesus Christus zu verstehen“. In Henischs Rezension ihres Romans „Jesus Christus. Rückkehr ins heilige Land“ im „Spectrum“ vom 6. Oktober 2007, kann man viel über die Widerstände des Autors erfahren gegen Rices Erzählweise, die ihn „frappant an jene Walt-Disney-Filme erinnert hat, die es geschafft haben, so gut wie alle literarischen Vorlagen auf ein Niveau gut gemeinter Niedlichkeit zu reduzieren“. Henisch stößt sich etwa an dem Versuch, so detailreich die Wirklichkeit von damals nachzukonstruieren, „dass einem das realistische Herz im Leib lacht“. Nachzulesen ist aber auch, wie Henisch in dieser Rezension seine Idee einer anderen literarischen Möglichkeit entwickelt, sich an diesen Stoff heranzuwagen.

Spuren davon, dass die Lektüre dieses Buches eine Rolle spielte, kann man in Henischs Roman finden, schon auf der zweiten Seite ist ein Empfang im Verlag bei Hoffmann und Campe erwähnt, bei dem sich Mischa und die Literaturkritikerin getroffen haben sollen, später wird der Hinweis verstärkt: „Diese amerikanische Bestsellerautorin, die durch eine endlose Serie von Vampirromanen berühmt geworden, nun, zur Verwirrung ihrer Fangemeinde, auf einmal ein Buch über Jesus geschrieben hatte.“

Nein, Henisch hat kein Interesse, aus einer anmaßenden Ich-Perspektive den Leser über alle Klitzekleinigkeiten der Kindheit Jesu zu informieren, über die Rice wie manche apokryphen Evangelien bestens Bescheid zu wissen vorgibt, die die kanonisierten Evangelisten aber nicht erzählen wollten. Der letzte Satz in Henischs Rezension denkt eine erfrischend andere Verfahrensweise an: Beim Lesen habe ihn eine Sehnsucht erfasst nach einer Alternative wie Monty Python’s „Leben des Brian“. Wer Henischs Bücher kennt, der weiß, dass ohne Humor nichts geht, schon gar nicht Gottsuche. „Wo bitte geht’s hier zu Gott? / Wer Dich ernsthaft sucht / Ist eine Lachnummer“, heißt es in den „Psalmen“ des Propheten Pepi Prohaska, eines der ebenso liebenswerten wie verrückten Gottsucher aus Henischs Feder, durchaus ein Verwandter Mischas (dessen Name nicht zufüllig auf Dostojewskis Roman „Der Idiot“ verweist).

Um eine ernsthafte und existenziell wichtige Suche geht es auch im „Verirrten Messias“, um die verzweifelte Suche nach sich selbst und um die damit verbundene Frage, wie es um die Erlösung steht. Es beginnt mit einer Provokation. Im Flugzeug nach Tel Aviv findet Barbara diesen Mischa neben sich sitzen, einen Mann mit „Schafsprofil“, der der verblüfften Literaturkritikerin erklärt, den Büchern fehle der heilige Geist. Wie sie gegen ihren Willen erfährt, ist er ein Flüchtling aus dem Gebiet des zusammengebrochenen Kommunismus, sein Leben habe sich verändert, als er begann, die Schrift zu lesen. Da kam ihm einiges bekannt vor: „Als hätte er dies und das schon einmal geträumt.“ Nach und nach habe er sich erinnert, wer er sei, nämlich Jesus. Einen solchen Sitznachbarn wünscht sich eine intelligente Frau nicht unbedingt an ihrer Seite. Nach einer Zwischenlandung in Rom werden sich ihre Wege in Israel trennen, er wird ihr aber von seiner sonderbaren Reise durchs Land Briefe schreiben und E-Mails, sie wird ihn nicht mehr los.

Mit Mischas Erzählungen von der Kindheit als Jeschua betritt Henisch ein heikles literarisches Terrain: Erinnern solche Erzählungen doch an jene Jesusliteratur, die versucht, den Protagonisten die alten Gewänder anzuziehen und die Zeit Jesu wieder aufleben zu lassen. Darauf kommt es Henisch nicht an, und sein literarischer Trick, dass diese „Erinnerungen“ Briefe (eines verrückten?) Mischa an Barbara sind, die wir aus ihrer Perspektive wahrnehmen, enthebt ihn des Verdachtes, historisierende Bedürfnisbefriedigung zu betreiben. Im Gegenteil: Henisch fühlt erzählend der Verlässlichkeit der Zeugen auf den Zahn. Das beginnt mit der Wahl dieses auf den zweiten Blick zwar faszinierenden, aber alles andere als vertrauenswürdigen Protagonisten, nimmt aber auch die Bibel als Literatur davon nicht aus: „Ja, so steht es bei Johannes. Aber kann man diesem Schriftsteller trauen? Ich weiß nicht, ob man überhaupt irgendeinem Schriftsteller trauen kann!“

Henisch zieht in dieser Liebesgeschichte den Leser in ein Wechselbad der Gefühle: Anziehung und Abstoßung, Nähe und Ferne, Glaube und Zweifel. Ein solches Hin und Her „plagt“ nicht nur Liebende, sondern auch Gläubige oder Bibelleser. Mit Barbara fragt sich der Leser: Kann man Mischa trauen? Oder ist er nur ein Spinner? Dass die Erinnerungsbilder an seine Kindheit in einem Museum aufgefrischt und in einem Amsterdamer Coffeeshop besonders färbig werden, spricht dafür. Oder ist doch was dran an seinem „Selbstbewusstsein“? Warum wird er vom Hirten „erkannt“? Warum zuletzt beim Brotbrechen? Und: Kann Barbara überhaupt ihren eigenen Augen trauen, etwa wenn sie Mischas Stigmatisierungen sieht? – Das Sympathische am Buch ist, dass es nichts abschließend erklärt. Eher setzt es eine nachhaltige Verstörung in Gang. Verstört wird auch Mischa, dessen Fabulierlust und Sendungsbewusstsein just da an ihr abruptes Ende kommen, wo es um alles geht. Nachdem ihm auf seiner Reise durch das Israel von heute gelungen ist, sich wiederzuerinnern, wartet in Jerusalem das große Blackout auf ihn. Wie (seine) Kreuzigung und Auferstehung denken? Da setzt auch Mischas bisher blühende Fantasie aus – oder sein Erinnerungsvermögen. Vielleicht wurde er als Jesus nicht gekreuzigt – oder vorzeitig vom Kreuz genommen und auf ein Schiff nach Rom gebracht: „Wenn das die Wahrheit ist, dann bin ich ein Versager!“ In Jerusalem ist Mischa mit seinem Latein am Ende. Hat die Erlösung je stattgefunden? Solche Zweifel führen ins Bodenlose: „Dem Christentum, sagte er, und zwar nicht nur meinem, ist ja allem Anschein nach der Boden unter den Füßen weggezogen.“

An theologischen Kernen knabbern

Henisch löst die Unsicherheit über die Identität seines Helden nicht auf, und die Frage nach der Erlösung stellt er als dringende. Die Mauer, die heute jenen Ort teilt, an dem einst die Auferweckung des Lazarus stattgefunden haben soll, erzählt nicht gerade von einer erlösten Welt. Doch neben dem Zweifel, der den Protagonisten in die Verzweiflung stürzt, ist ja auch (vorläufige) Rettung durch Barbara zur Hand, und es kommt zu weiteren, letztlich unerklärlichen Begebenheiten. Gerade aufgrund dieser Unsicherheiten liest sich Henischs Roman als glaubwürdigere Annäherung an das „Geheimnis des Glaubens“ als die Literatur jener, die schreibend alle Ungereimtheiten aus dem Weg räumen wollen.

Henisch wäre nicht Henisch, würde er nicht herzerfrischend witzige Einfälle einbringen: So sieht jener Widersacher, der als Vertreter der Christian Coalition Mischa euphorisch begrüßt und geradezu verfolgt, wie Donald Rumsfield aus. Auch Kritik streut der bibel- und theologieversierte Autor in seinen Roman: etwa wenn die Kirchen, besonders die Verkündigungskirche in Nazareth, Mischas Wiedererkennen im Heiligen Land im Weg stehen oder wenn er Mischa und den Hirten in ihrem Dialog an theologischen Kernen knabbern lässt.

„Die Geschichte beginnt ja in der Gegenwart“, sagt Barbara, die Literaturkritikerin, zu Richard, dem Historiker, und es ist die Geschichte, die Henisch schreibt. „Allerdings reicht sie weiter zurück in die Vergangenheit, und womöglich reicht sie auch irgendwie in die Zukunft. Was weiß ich? Eine ziemlich verrückte Geschichte.“

PETER HENISCH: SEIT LANGEM EIN EIFRIGER BIBELLESER.

Norbert Mayer, Die Presse

Schon der erste Prosatext des späteren Schriftstellers Henisch war vom Religionsunterricht (und seinem Religionslehrer Adolf Holl) inspiriert. Sein jüngstes Werk, „Der verirrte Messias“ hat also eine lange Vorgeschichte.
Sie wenden sich erstaunlich oft in Ihren Büchern der Religion zu, wie eben erst in Ihrem neuen Roman „Der verirrte Messias“ (Deuticke). Ist das Zufall?

Peter Henisch: Das Thema ist für mich nicht vom Himmel gefallen, ich trage es schon ziemlich lange mit mir herum. Etwas ironisch eingesetzte religiöse Motive klingen zum Beispiel in Romanen wie „Die schwangere Madonna“ und „Pepi Prohaska Prophet“ an. Bei Pepi Prohaska geht es auch um jemanden, der glaubt, einen Auftrag von Gott zu haben.

Aber diesmal gehen Sie noch einen Schritt weiter.

Peter Henisch: Der Protagonist von „Der verirrte Messias“ ist eine andere Mischung. Darauf weist schon sein Familienname hin, derselbe wie jener der Hauptfigur aus Dostojewskis Roman „Der Idiot“. Den verwendet mein Messias, den schreibt er als Absender auf seine Briefe. Das ist vielleicht Chuzpe, aber die Frau, die er mit diesen Briefen belästigt – anfangs wirkt er auf sie ja fast wie ein Stalker –, diese Frau ist Literaturwissenschaftlerin: Ihr versucht er sich durch diesen Namen kenntlich zu machen.

Ihr Verirrter, eine Art wiedergekommener Heiland, der sogar Stigmata hat, liest das Neue Testament in einer viersprachigen Ausgabe. Und behauptet, es war damals, als er zum ersten Mal da war, ganz anders. Ist das auch Ihre Exegese?

Peter Henisch: Mischa Myschkin versetzt sich in die Situation des Herrn Jesus, der wahrscheinlich keine Ahnung gehabt hat, dass man ihn je Christus nennen wird. Die Idee seiner Jünger, dass er der Messias sein soll, hat Jeschua wohl mit einer gewissen Reserve gesehen. Vielleicht lässt er sich nach und nach darauf ein, in den synoptischen Evangelien kann man Spuren dieser Art von Bewusstwerdung finden. Aber dass er alles von vornherein weiß und nie an sich zweifelt, wie bei Johannes, das wäre ja eigentlich gerade das Gegenteil der Menschwerdung, die doch als Voraussetzung der Erlösung gilt.

Haben Sie Tabubrüche einkalkuliert?

Peter Henisch: (Lacht) Es gibt eine Stelle, in der in Rom ein Buch von Dan Brown aus dem Fenster geworfen wird. Vielleicht ist das für manche der größte Tabubruch. Ach ja, und am Ende, als er im Zweifel, in der Verzweiflung zu versinken droht, da kokst mein Messias. Aber Barbara, die Frau, mit der sich nach und nach eine ganz eigenartige Liebesgeschichte entwickelt hat, versucht, ihn da rauszuholen.

Sind Sie ein eifriger Bibelleser?

Peter Henisch: Seit Langem. Die Luther-Bibel zum Beispiel ist doch das Basismaterial der deutschen Sprache. Bert Brecht hat sie geliebt, und auch der Philosoph Ernst Bloch, über den ich eine unvollendete Dissertation geschrieben habe. Im Unterschied zu den meisten Autorenkollegen meiner Generation in Österreich habe ich diese Lektüre nie als reaktionär empfunden.

Wie sind Sie konkret auf das Thema gekommen?

Peter Henisch: Vor zwei Jahren, nach der Fertigstellung des Romans „Eine sehr kleine Frau“, habe ich mich zum Lesen in mein italienisches Refugium zurückgezogen. Einfach frei lesen, habe ich gedacht. Ohne besonderen Plan. Ich lese dort gern auf Italienisch. Unter den vorhandenen italienischen Büchern war eine exzellente Bibelübersetzung mit Kommentaren. Da habe ich mich also in die Evangelien vertieft. Das sind Texte, die ich gut kenne, aber in einer anderen Sprache wirkte vieles neu. „La potenza di Dio“, die über die Jungfrau Maria kommen soll, hört sich zum Beispiel anders an als „Die Kraft des Allerhöchsten“. Da hab ich mir Notizen gemacht und schon mit dem Gedanken gespielt, eine etwas andere Jesus-Geschichte zu schreiben.

Und wie wurde es dann konkret?

Peter Henisch: Ich sollte auf Empfehlung von Adolf Holl für das „Spectrum“ ein Buch von Anne Rice besprechen, die hat eine Reihe von Vampir-Romanen geschrieben. Auf ihre alten Tage ist sie offenbar fromm geworden und hat eine Jesus-Trilogie verfasst. Den ersten Band, „Rückkehr ins Heilige Land“, sollte ich rezensieren. Das Buch ist gut gemeint, so viel kann man sagen – lieb amerikanisch, als ob Walt Disney in den Fünfzigerjahren einen Jesus-Film gemacht hätte, mit all den frommen Legenden. So nicht, habe ich mir gedacht.

Adolf Holl war Ihr Religionslehrer. War das ein nachhaltiger Einfluss? Auch er hat außergewöhnliche Bücher über Jesus geschrieben.

Peter Henisch: Dass ich Holl in der Oberstufe als Lehrer bekommen habe, war entscheidend. Vorher war der Religionsunterricht echt jenseitig, nun war er auf einmal interessant. Ich komme nicht aus einem religiösen Haus, bin also nicht vom Katholizismus geschädigt. Ich musste keine Verletzungen abarbeiten, wie etwa mein Kollege Josef Winkler. Der landläufige Katholizismus und das Christentum passen für mich nicht unter einen Hut. Holl, damals ein junger Kaplan, hat uns einfach andere Perspektiven ahnen lassen.

Was hat er denn gemacht?

Peter Henisch: Er hat die philosophisch interessierten Schüler für sich gewonnen. Damals, bevor es von oben gebremst wurde, sah die Befreiungstheologie noch wie eine gleichzeitig idealistische und realistische Perspektive aus. Was mich am Christentum und am Judentum, aus dem es ja kam, anzog, hatte jedenfalls wenig bis nichts mit einer konservativ autoritätsgläubigen Lebenshaltung zu tun. Holl war anders als alle anderen Lehrer. Ich habe mich auf seine Stunden gefreut.

Hat sich das literarisch ausgewirkt?

Peter Henisch: Mein erster Prosatext war tatsächlich von einer Frage im Religionsunterricht inspiriert. Es ging um einen Fall von Tötung nach Verlangen. Da hat einer seinen Bruder, einen unheilbar Kranken, auf dessen Verlangen umgebracht. Das war ein konkreter Fall in Frankreich, den wir im Unterricht diskutierten, ich habe den Vorfall in meiner Geschichte ins Inzersdorfer Ziegelwerk verlegt. Dostojewski und Camus haben mich damals auch schwer beeinflusst. Aber Holl hat mir „the doors of perception“ geöffnet.

Hat Herr Holl Ihr Buch gelesen?

Peter Henisch: Ich habe ihn ersucht, das Manuskript vor Erscheinen zu lesen und mich auf eventuelle sachliche Fehler hinzuweisen, aber er hat keinen gefunden. In den Realien bestens beschlagen, hat er gesagt. Das freut mich natürlich. Dieser Jesus-Roman, hat er gesagt, ist ein Lichtblick. Auf jeden Fall ist dieses Buch viel weniger langweilig als das des Herrn Ratzinger.

Ist es Ihnen leichtgefallen?

Peter Henisch: Ich habe es nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt. Im Grunde genommen hat sich dieses Buch seit meinen Anfängen als Schriftsteller vorbereitet. Man kann das schon in sehr frühen Arbeiten von mir nachlesen. Ein Kurzprosatext mit dem Titel „Lazarus“ etwa ist 1970 in der damals sehr ambitionierten Literaturzeitschrift „Konfigurationen“ erschienen. In gewisser Hinsicht war diese poetisch-experimentelle Prosa der Keim zum nun vorliegenden Roman.

Der hat also eine lange Vorgeschichte…

Peter Henisch: Ja, es gibt viele Verbindungslinien zu früheren Büchern von mir. Etwa zu „Morrisons Versteck“, das scheint mir jetzt in mancher Hinsicht wie eine Vorarbeit zu diesem Buch. Oder im „Hiob“-Zyklus, an dem ich jahrzehntelang geschrieben habe. 1971 wurden Proben daraus in der „Neuen Rundschau“ veröffentlicht, vorläufig zwischen zwei Buchdeckeln aufbewahrt steht er dann 1989 in meinem Gedichtband „Hamlet, Hiob, Heine“ – die letzten Dinge haben mich einfach immer interessiert.

Wie stehen Sie also zu diesen letzten Dingen?

Peter Henisch: Bei aller Liebe zur Ironie setze ich mich ernsthaft mit dem Thema auseinander. Die angeblich schon absolvierte Erlösung, und warum man so wenig davon merkt. In einer Welt, in der mein verirrter Messias hilflos vor einer Mauer steht, die das sogenannte Heilige Land in zwei Teile spaltet. Ausgerechnet an dem Ort, an dem angeblich Lazarus auferweckt wurde.

GANZ KURZ:
1.   … ob Sie an ein Leben nach dem Tod glauben?
Die wahrscheinliche Endgültigkeit des Todes stört mich jedenfalls. Dagegen schreibe ich an.
2.   … was für Sie eine Todsünde ist und was eine lässliche?
Die Todsünde: der absolute Mangel an Liebe. Die lässliche: die relative Verirrung im Leben.
3.   … was Sie von Judas halten?
Womöglich ein frommer Mensch. Wahrscheinlich ein armer Hund. „I feel used“, sagt er ganz richtig in „Jesus Christ Superstar“.
4.   … und vom Teufel? Mit C.G. Jung gedacht: der Schatten Gottes.

KOMMENTARE von Presselesern finden Sie am Ende des on-line Artikels

ISRAELREISE MIT DEM MESSIAS

Christian Schachenreiter, OÖNachrichten

Peter Henisch ist etwas Außergewöhnliches gelungen: ein Jesus-Roman, der doofe Glorifizierung ebenso konsequent vermeidet wie blasphemische Diffamierung.
Barbara ist eine Unerlöste unserer Zeit. Sie ist 39, nach einer unrunden Beziehung mehr oder weniger glücklich getrennt, folglich Single, kinderlos und von Beruf – das Schicksal kann gnadenlos sein! – Literaturkritikerin. Während einer Flugreise nach Israel mit unerwünschtem Zwischenstopp in Rom wird Barbara die Bekanntschaft eines jüngeren, seltsamen Mannes aufgedrängt. Der aus Russland stammende, aber in Deutschland lebende Mischa ist ein leidenschaftlicher Leser der Bibel, vor allem des Neuen Testaments. Anfangs benützte er eine viersprachige Ausgabe rein pragmatisch zum Spracherwerb, aber so nach und nach begann ihn das Leben und Leiden Jesu zu faszinieren – bis zu dem problematischen Zeitpunkt, an dem Mischa den halbhellen Eindruck gewann, er lese da seine eigene Geschichte, die Geschichte eines früheren Lebens – naja …

Der wiedergeborene Messias begibt sich an die Stätten seines früheren Wirkens, um den spektakulären Ereignissen der Vergangenheit nachzuspüren. Barbara hält er über seine Erfahrungen auf dem Laufenden, und so gerät sie, die anfangs eher mit verdrossener Ablehnung auf den wiedererstandenen Messias reagiert hat, in seinen Sog und wird letztlich zu einer Begleiterin, deren liebevolle Fürsorge selbst Maria aus Magdala alle Ehre gemacht hätte. Spinnt dieser Mischa einfach nur? Oder ereignet sich vielleicht doch etwas Mysteriöses?

Die spirituellen Rätsel löst Henisch klugerweise nicht auf. Vielmehr geht es ihm darum, anhand des fiktiven Plots die folgenreiche Lebens- und Leidensgeschichte Jesu für unsere heutige Vorstellungswelt nachvollziehbar zu machen – so weit dies eben möglich ist. Das führt bisweilen zu überraschenden, bemerkenswerten Sichtweisen, zu ironischem Achselzucken und auch zu skeptischer Distanzierung. Man merkt, dass Peter Henisch unbelastet an die Bibel herangeht – unter österreichischen Autoren eher eine Rarität. Henisch hat keine Kindheit zu bewältigen, die durch eine wüste katholische Erziehung beschädigt worden wäre. So braucht er sich auch nicht durch rabiate Blasphemie distanzieren.

Mit seinem Roman „Der verirrte Messias“ zeigt Peter Henisch eindrucksvoll, dass man die Bibel nach wie vor ernst nehmen kann, ohne deswegen in vorkritische „Blödsichtigkeit“ (G. Ch. Lichtenberg) zu verfallen. Es gibt aber noch einen guten Grund, diesen Roman zu lesen: den schönen epischen Sound seines Stils.

Großes Finale für Novak

Beate Tröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Literaturbeilage zur Buchmesse)
Walter Grünzweig, der Standard 10.09.2011
Rainer Moritz, Die Presse 1.10.2011
Michaela Schmitz, Deutschlandfunk 30.11.2011
Thomas Jorda, Interview in BESTE SEITEN, Extrablatt der österreichischen Zeitungen und Magazine zur Buch Wien 11
Günther Eisenhuber (der das Buch lektoriert hat) interviewt seinen Autor (Residenz Magazin)
Cornelius Hell, Einleitung zur Präsentation im Theater(café) an der Wien
Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten
Sebastian Fasthuber, Now! 28.11.2011

Im Gefühlskraftwerk klassischer Musik

Beate Tröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wie Franz und Herta wurden, was sie sind: Peter Henisch erzählt tragikomisch vom Ende einer alten Ehe.

Sie heißen Franz und Herta. Nicht etwa Loriot hat sich die Namen für dieses Ehepaar ausgedacht, sondern Peter Henisch. In seinem jüngsten Roman erzählt er von Franz Novak, bei der Post angestellter Mittfünfziger, und dessen Frau Herta, wenig jünger und Betreiberin eines dörflichen Friseursalons. In über dreißig Jahren haben Enttäuschungen und Missverständnisse ihre Ehe mit Mehltau überzogen. Zumindest der duldsame Franz scheint sich, briefmarkensammelnd und von Höherem träumend, damit abgefunden zu haben.

Doch eines Tages bringt ein kleiner Stein eine Lawine aufgestauter Gefühle ins Rollen. Ein Gallenstein läßt Franz nicht nur auf einen lautstarken Zimmernachbarn treffen, sondern auch auf die indonesische Krankenschwester Manuela mit der sanften Stimme, die ihm ein probates Mittel gegen den volksmusikhörenden Schnarcher im Nebenbett zur Verfügung stellt: einen Kassettenrekorder mit Kopfhörern, dazu eine Sammlung von Opernarien. Ausgerechnet diese musikalische Gattung, die nicht nur bei Novak im Ruch des Dünkelhaften steht, wirft in Kombination mit Manuelas schwesternkittelverhüllter Erotik den am Lärm Leidenden endgültig aus der Bahn. In Verbindung mit einer zarten Abschiedsberührung von Manuelas Brust, die Henischs tragikomische Hauptfigur womöglich nur erträumt hat, versperrt die erwachende Leidenschaft für die Oper den Rückweg in sein altes Leben.

Mit der Figur der Herta, ihrer schrillen Stimme, ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit, ihren Tiraden gegen die neue musikalische Leidenschaft ihres Gatten, ihren ausländerfeindlichen Intrigen gegen die Krankenschwester, mutet Henisch nicht nur Novak, sondern auch seinen Lesern einiges zu. Bitterböse könnte man die Zeichnung dieser Frau nennen, fast schablonenhaft altherrenkriselnd auch Novaks späten Ausbruch, schiene nicht in dem wechselweise die Innensicht der Figuren abbildenden Erzählen hin und wieder auf, dass das Leben selbst Herta und Franz zu dem hat werden lassen, was sie sind. Weniger die grosse Katastrophe als eine Kette von kleinen haben das Ehefaß zum Überlaufen gebracht.

Peter Henisch, der seit Jahren leichthändig und hintersinnig mit akribischem Blick für die Verästelung der Psyche seiner Figuren erzählt, erspart diesem Paar nichts. Doch „großes Finale für Novak“ ist auch eine Hommage an die Oper. Bearbeitet würde ein hervorragendes Libretto daraus: Zum garstigen Hin und Her zwischen Franz und Herta, zu der zarten Zuneigung zwischen Franz und der Krankenschwester, die von Herta genauso brutal zertrennt werden, wie sie ihrem Franz beim Hören einer Oper den Stecker aus der Steckdose reißt – zu all diesen Szenen wären Trompeten-, Pauken- und Streicherklänge, spitze Sopran- und tiefe Bass-Arien denkbar. Dabei gleitet Henischs Ton nie ins Pathetische ab, die Nuancen ergeben sich aus der Genauigkeit des Erzählens.

Aufgeräumt wird auch mit Vorurteilen gegen die Oper, die am Ende den einzigen Sieg davonträgt. Immer mehr Verschüttetes holt sie aus Novak hervor, wirkt be- und entzaubernd. Über diese Erlebnisse geht die wundersame Wirkung des Klangs, die Peter Henisch schon in „Eine sehr kleine Frau“ beschworen hat, unweigerlich auch auf den Leser über.

Töne rütteln Leben durch

Walter Grünzweig, der Standard

Genau darauf musste man doch seit einiger Zeit vorbereitet sein: Nachdem drei oder vier Jahrzehnte lang der klassische kulturelle Kanon ‚hinterfragt’ worden war, bis er nicht nur nicht mehr gültig war, sondern vor allem nicht mehr gelesen, gehört und gesehen wurde; nachdem man stattdessen die gesellschaftlich ‚relevante’ Alternativ- und Populärkultur insbesondere in der Musik zum unumschränkten Leitmedium ausgerufen hatte und damit wissentlich oder unwissentlich der konsequenten Kommerzialisierung und ästhetischen Verflachung Vorschub leistete, begegnen wir nun im neuen Roman von Peter Henisch ausgerechnet der Oper als Trägerin einer neu entstehenden Gegenkultur.

Zentrale Figur dieser Kulturrevolution ist, nur Henisch ist solches zuzutrauen, ein niederösterreichischer Postler. Nach einer Gallenoperation – das Organ verweist auch auf Franz Novaks Lebensstimmung – hält er die Geräusche seines Zimmernachbarn nicht mehr aus und wird von einer mitfühlenden philippinischen Krankenschwester mit Kassettenrekorder und Opernmusik versorgt. Langsam, aber sehr konsequent nähert er, für den „der Kontinent Oper bis dahin ein weißer Fleck auf seiner Landkarte“ war, sich dieser Musik; ihre Wirkung jedoch ist „nachhaltig“. Dass die musikalische Erfahrung des 55-Jährigen auch mit der Aura der jungen Schwester zu tun haben könnte, die, ganz sicher kann man sich da nicht sein, Novaks Hände zum Abschied möglicherweise an ihre Brust geführt hat (ein extrem sparsamer und gerade dadurch sehr suggestiver sexueller Moment, wie er bei Henisch immer wieder mal auftaucht), erscheint klar. Aber es wäre ein Fehler, Oper und Erotik auseinander zu dividieren, denn nur zusammen entwickeln sie in diesem Roman ihre überraschende Wirkung.

Deutlich wird die subversive Konsequenz der musikalischen Großform jedoch erst nach Novaks Entlassung aus dem Krankenhaus und seiner Rückkehr in die Ehe – in einem ausgebauten Schrebergartenhaus an der Peripherie der Wiener Peripherie. Denn Ehegattin und Friseuse Herta kennt angesichts der neuen, alternativen Anwandlungen ihres bald auch zwangsfrühpensionierten Gatten keinerlei Pardon. Sie entnimmt ihre Lebensphilosophie den Illustrierten ihres Salons, ihre radikale ausländerfeindliche Einstellung dem Boulevard und ihre Klischeehaftigkeit und extreme Konventionalität ihrer kleinbürgerlichen Umgebung. Ihre unerträglich schrille Stimme – sie steht in ironischem Gegensatz zu den hohen Lagen der Oper – wird entscheidend zu den Gallensteinen ihres Mannes beigetragen haben. In Herta Novak begegnen wir einer Figur, deren bösartige Konsequenz fast schon unfair ist, auch wenn sich der Roman (vergeblich) bemüht, hin und wieder auch ihre Sicht der Situation zu zeigen. Schlimm, dass diese Haltung kulturell nicht nur zur deutschsprachigen Schlagermusik passt, sondern dass auch Tina Turner und Joe Cocker in diese Welt assimiliert werden können.

Nicht assimiliert werden jedoch kann die Oper. Für Herta Novak ist diese Musik „abartig“ (!), ihr Mann ist auf „Irrwege“ geraten und es muss ihm daher geholfen werden. Die Callas ist eine „Millionärsschlampe“, deren Stimme zu Recht abhanden gekommen sei – „warum hatte sie auch so hoch singen müssen?“ Ganz richtig vermutet sie, dass ihr Mann sich an diesem „Geschmettere und Gegirre, das sie aufs Blut nicht ausstehen konnte“, regelmäßig „aufgeilen“ würde. Ihre Gegenmaßnahmen fokussiert sie mit xenophober krimineller Energie auf die philippinische Krankenschwester, die aufgrund dieser Verleumdungen ihre berufliche Existenz und ihre Aufenthaltsberechtigung verliert.

Dies alles bestärkt jedoch den Postler Novak – „der Neue“ – auf dem Weg zum neuen Menschen. Er weigert sich, den inzwischen verhassten Garten auf „anständige“ Weise zu mähen und verwendet stattdessen eine alte Sense. War er bislang ein hilfloser „Ehekrüppel“, so bricht er nun aus den kleinbürgerlichen Zwängen aus, um der „Gattinnenliebe zu entgehen“. Spät aber doch entdeckt er, dass er nicht bloß ein sexueller Mensch ist, sondern vor allem auch über Leidenschaft und tiefe Sehnsucht verfügt – Letzteres ist ein Leitmotiv des Buchs. Dabei wird das Opernhören zur heiligen Handlung, im Unterschied zur „profanen“ Populärmusik, die ihm immer widerwärtiger wird.

Sicher geht es hier um midlife crisis, sicher auch um den Ausbruch des älter werdenden Kleinbürgers. Aber wenn Franz Novak sich aus dem Ex-Schrebergartenhaus mit dem Zettel „Liebe Herta. Ich glaube es ist richtiger so“ in eine Fremdenpension in Wien verabschiedet, um sich dort mit Kopfhörer und CD-Player voll und ganz der Oper zu widmen, kommt hier etwas Neues zum Vorschein, eine explosive kulturelle Kraft, die in der Lage ist, persönlichkeitsbildend zu wirken. Sie ist, so macht dieser Roman überzeugend klar, auch ein Gegengewicht zur bedrückend allgegenwärtigen Ausländerfeindlichkeit dieser österreichischen Lebenswelt, die dem Autor und Menschen Peter Henisch ein so wichtiges politisches Anliegen ist. Das feurige, tragikomische „Finale für Novak“, das hier sicherlich nicht verraten werden wird, steht damit symbolisch für das gesamte Buch – auch wenn der Schluss (wann eigentlich nicht bei Henisch?) zwiespältig bleibt.

Der Musikkritiker und Professor für Musikjournalistik Holger Noltze hat in seinem im vergangenen Jahr erschienenen, provokanten Buch Die Leichtigkeitslüge die These aufgestellt, dass die Hochkultur, insbesondere die Oper, aufgrund der populärkulturellen Simplifizierungswelle ihre Kraft verloren habe. Wenn man dem traditionellen Kanon wieder die Komplexität zuschreibe, die er verdient und auch erfordert, biete er dem flachen, durchkommerzialisierten Leben unserer Gegenwart große Chancen: Kultur muss wehtun dürfen! Diese an der Frankfurter Schule orientierte Möglichkeit der Hochkultur wird von Henischs außergewöhnlichem Roman quasi aus der Gegenrichtung bestätigt. Der Postler Novak kommt vollkommen unbedarft zur Oper, aber erarbeitet sich deren Komplexität und deren die Widerlichkeit der engen Welt überwindendes Sehnsuchtspotenzial ohne fachliche Anleitung – allein durch die Zuwendung der Krankenschwester und intensives Hören. Dieser autonome Weg zur kulturellen Bildung ist zunächst einmal romanhaft und auf keinen Fall ein Massenphänomen. Die Vereinigung von demokratischem und künstlerischem Anspruch ist jedoch erfrischend und lässt hoffen: Mit seiner detaillierten musikalischen Konkretheit kann das Buch sogar auch als Einführung ins große Musiktheater dienen. Großes Finale für Novak ist ein Roman der Oper mit einem Notausgang – einem Ausweg aus der Gefangenschaft im Kommerz und der damit verbundenen politischen Dummheit.

Im Bett mit der Oper

Rainer Moritz, Die Presse

30 Jahre hatten es Franz und Herta Novak miteinander ausgehalten. Und dann das. Über die Feinhörigkeit eines Früh
pensionisten: Peter Henischs „Großes Finale für Novak“ – Roman eines Opernliebhabers.

Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass Ehen kein Leben lang halten und die Scheidungsquoten kontinuierlich steigen. Da die Literatur oftmals nicht umhin kommt, die sozialen Gegebenheiten der Gegenwart zu spiegeln, tummeln sich in ihr unentwegt Paare, die auf mehr oder minder unschöne Weise auseinandergehen. Um zu dem Entschluss zu gelangen, getrennte Wege zu gehen und das Sakrament der Ehe in Zweifel zu ziehen, bedarf es heute nicht mehr wie in „Madame Bovary“ oder „Effi Briest“ klandestiner Seitensprünge. Ob ein hochgejubelter Roman wie Charlotte Roches „Schoßgebete“, dessen Heldin danach trachtet, ihre Ehe mit variantenreichem Sex zu retten, Schule machen wird, darf bezweifelt werden. Sich nicht verstehende Paare und Patchworkkonstruktionen aller Art werden sich – diese wenig kühne Prognose sei gewagt – in der Literatur immer weiter verbreiten.

Dankbar nimmt man folglich wahr, dass Peter Henisch in seinem neuen Roman keine weitere Besichtigung jener Ehehöllen unternimmt, die Ingmar Bergman und seine Nachfahren so eifrig beschrieben haben. Gewiss, auch „Großes Finale für Novak“ handelt von der heftig endenden Zerrüttung einer Ehe. 30 Jahre immerhin hatten es Franz und Herta Novak miteinander ausgehalten, sich ein Schrebergartenhaus vor den Toren Wiens zum Refugium ausgebaut, einen mittlerweile ins Ausland entschwundenen Sohn großgezogen und sich nicht mehr und nicht weniger zu sagen als andere altgediente Eheleute.

Auslöser des jähen Sinneswandels ist ein Spitalsaufenthalt. In typisch männlicher Einstellung hatte der 55-jährige Novak Alarmsignale seines Körpers ignoriert, sodass er sich eiligst einer Gallensteinoperation unterziehen musste. Den Lärmbelästigungen eines Bettnachbarn entgeht der Patient nur dadurch, dass er sich bei einer jungen indonesischen Krankenschwester, Manuela Mandra, Kassetten mit Opernmusik und das dazugehörende Abspielgerät ausleiht. Fortan taucht Novak in die Welt von „La Traviata“ und „La Bohème“ ein – was ihn selbst überrascht, da er und seine Gemahlin dieses Musikgenre zuvor strikt abgelehnt haben. Novak entwickelt mit einem Mal eine „neue Feinhörigkeit“, begleitet von einer nicht nur platonischen Sympathie für die attraktive Pflegerin. Kaum ist er aus dem Spital entlassen, verändert sich seine Welt: Die Gemütlichkeit des Eigenheims stört ihn zunehmend; Rasenmähergeräusche vermag er nicht zu ertragen, sodass er das Grün vor dem Haus altmodisch mit einer Sense zu trimmen versucht, und die schrillen Vorhaltungen der Gattin tragen gleichfalls nicht zum Wohlbefinden bei. Diese ist geübt genug, um den neuen musikalischen Vorlieben ihres Mannes zu misstrauen und dahinter die Einflüsterungen einer Nebenbuhlerin zu wittern.

Als Novak zudem mitgeteilt wird, dass seine Stelle im Postamt einer Rationalisierung zum Opfer fällt und er sich auf ein Frühpensionistendasein einzustellen hat, geraten die jahrelang eintrainierten Abläufe im Hause Novak komplett durcheinander. Während Herta wie zuvor ihren mäßig florierenden Friseursalon betreibt, nutzt Franz seine neue Freiheit aus, unternimmt Wanderungen und arbeitet sich, während seine Gedanken um Schwester Manuela kreisen, in den Reichtum der Operngeschichte ein.

Peter Henisch hat einen bedächtig voranschreitenden Roman geschrieben, der immer wieder die Perspektive wechselt und abzubilden versucht, was sich in den plötzlich verwirrten Köpfen seiner Mittelschichthelden tut. Herta Novak nimmt dabei zwangsläufig den schwächeren Part ein. Ressentimentgeladen verfällt sie bei jeder Gelegenheit in Fremdenhass und kann in Manuela nicht mehr als eine „asiatische Zuckerpuppe“ sehen, die ihrem armen Mann den Kopf verdreht und wohl ohnehin einem Nebenjob als Prostituierte nachgeht. Voller Missgunst macht sie sich auf, Manuela bei der Krankenhausdirektion anzuschwärzen – eine Maßnahme, die von Erfolg gekrönt ist und Franz‘ zaghafte Versuche, wieder Kontakt zu seiner musikalischen Lehrmeisterin aufzunehmen, scheitern lässt.

Wie der Roman enden und was der einst „guten Gefährtin“ Herta zustoßen wird, ahnt der Leser früh. Auf diese Zuspitzung kommt es indes nicht an, denn im Grunde will Peter Henisch die erstaunliche Geschichte eines Menschen erzählen, der sich unverhofft von hoher Kunst „tief in seinem Innersten“ angesprochen fühlt und seinem Leben eine neue Richtung geben möchte. Der „treue Ehekrüppel“ Novak merkt, dass – nachdem ein Ausbruch in eine Fremdenpension ein unrühmliches Ende findet – eineRückkehr in die alten Gewissheiten nicht mehr möglich ist, dass er dem „falschen Frieden“ zu Hause misstrauen muss.

Und weil ein solcher Lebensumschwung eher eine Seltenheit darstellt, greift Henisch zu erzählerischen Mitteln, die dieser Prosa eine bewusste, Novaks Bewusstseinsprozess nachzeichnende Langsamkeit einflößen. Retardierende Momente beherrschen den Gang der Geschichte, unterbrochen von Alltagsbeschreibungen, die von feinem Humor durchzogen sind. Manchmal hart am Klischeeabgrund angesiedelt, fasst der Text das späte Scheitern einer Ehe in genau beobachtete Dialoge. „Jetzt, wo du nicht da bist, geht mir etwas ab“ – so etwa lautet die vehementeste Liebeserklärung, die Herta über die Lippen kommt. Und mit Vergnügen registriert man, dass auch in österreichischen Marktgemeinden die Erkenntnisse der Moderne, wenn auch mit einiger Verspätung, Einzug halten: „Vielleicht war das ja ein Appell seines Unterbewusstseins. Sie hielt sonst nicht viel von diesem Psychogeschwafel, aber über das Unterbewusstsein (oder hieß es das Unbewusste?) stand so viel in den Illustrierten, dass sie es inzwischen doch irgendwie akzeptiert hatte. Womöglich gab es das wirklich.“

Wo es Peter Henisch gelingt, Wehmut und Komik derart zu mischen, erweist sich sein Roman als intelligente, anregende Lektüre. Dass diese manchmal von einer gewissen Betulichkeit getrübt wird, hat damit zu tun, dass Franz und Herta Novak offenkundig an Frühvergreisung leiden. Für einen Mittfünfziger ist der pensionierte Postmann von eigentümlicher, ja quälender Unbeweglichkeit, und auch Gattin Herta, eine Frau von gerade mal 48 Jahren, könnte man sich mühelos als Altersheimbewohnerin vorstellen. Mehltau liegt über diesem Leben, und ob „Hoffmanns Erzählungen“ oder „Die Zauberflöte“ da wirklich Abhilfe schaffen, darf bezweifelt werden.

Oper als Heilmittel

Michaela Schmitz, Deutschlandfunk

Der österreichische Schriftsteller, Journalist und Musiker Peter Henisch meint es ernst mit der Ironie. Sie ist ihm Motor der Erkenntnis und steht auch im Zentrum seines neuen Buchs „Großes Finale für Novak“.

Wer nicht fühlen will, muss hören. Oper zum Beispiel. Für manch einen ist das Strafe genug. Auch für Franz Novak. Zumindest galt das bis zu seiner Gallenoperation. Knapp war es gewesen. Sehr knapp. Er hatte ja nicht auf seine Schmerzen hören wollen. Jetzt lag er also im Spital und hörte Oper. Ausgerechnet Oper! Zum einen war es das einzige, was die akustisch aufdringliche Körperlichkeit seines Bettnachbarn übertönen konnte. Zum anderen war es Schwester Manuela gewesen, die ihm ihre privaten Aufnahmen als akustisches Heilmittel zur Verfügung gestellt hatte. War nicht vielleicht der exotisch sinnliche Charme der indonesischen Schwester der eigentliche Auslöser für die ihm bislang völlig unbekannten Gefühle beim Opern-Hören?

Bei seiner Frau jedenfalls hatte der 55-jährige Postler in den vergangenen dreißig Ehejahren nie Vergleichbares empfunden. Nun zeigte Herta auch deutlich mehr Talent fürs dramatische als fürs lyrische Fach. Nicht selten hob sich ihre Stimme bei regelmäßigen theatralischen Auftritten im ausgebauten Schrebergartenhaus in unangenehm schrille Regionen. Und als Novak auch nach der Rückkehr aus dem Spital nicht von seiner neu geweckten Opern-Leidenschaft lassen will, werden bei der niederösterreichischen Elektra schließlich sämtliche Rachegeister lebendig.

Spätestens, nachdem der unerwartet in Früh-Ruhestand versetzte Novak zu Hause auszieht, um endlich ungestört in einer städtischen Pension seiner neuen Passion nachgehen zu können: Opern zu hören und Briefe an Schwester Manuela zu schreiben, ohne sie je abzuschicken.

Von blinder Eifersucht getrieben, überlässt Herta daraufhin ihren Friseursalon den Aushilfen und führt einen unbarmherzigen Rachefeldzug gegen Schwester Manuela. Mit Erfolg. Als Franz Novak bei seinem ersten Opernhausbesuch der „Madame Butterfly“ Schwester Manuela im Publikum entdeckt und ihr nach der Vorstellung hinterhereilt, will sie ihn nicht wiedererkennen. Aller Lebensgeister beraubt, zieht sich Novak in seine Pension zurück und verlässt das Bett nicht mehr. Bis Herta ihren seelisch und körperlich verwahrlosten Franz zu sich nach Hause zurückholt. Was dieser erst später erfährt: Hertas Verleumdungen der Schwester im Spital und bei der Polizei haben Manuela Arbeit und Aufenthaltsgenehmigung gekostet.

Als Novak auf die Wahrheit stößt, bricht er auf der Stelle seinen kalten Opern-Entzug ab, legt die nächste CD ein und dreht die schmetternden Arien auf volle Lautstärke. Herta glaubt er allein auf dem Weg nach Teneriffa. Doch ihr Flug wird gecancelt. Plötzlich steht sie vor der Tür. Und tut, was man von ihr erwartet: Sie zieht den Stecker. Ein starker Auftakt zur dramatischen Ouvertüre für Novaks großes Finale. Der Ausgang? Der wird nicht verraten. Nur so viel: Am Ende sieht man Novak mit seinen Opern-CDs unterm Arm den verschneiten Aussichtsturm des Hausbergs ersteigen …

Peter Henischs „Großes Finale für Novak“ ist zweierlei: Libretto für eine dramatisch-komische Oper und Anti-Bildungsroman. Motor der gesellschaftskritischen Roman-Oper von tragischer Komik ist die ironische Konfrontation der sogenannten kleinen Leute mit den großen existenziellen Themen Liebe und Tod. Die bewusst grob geschnitzten Figuren treten – wie bei der Commedia dell’arte – als komische Darsteller bis zur Karikatur überzeichneter Typen auf. Novaks beleibter Spitalnachbar Kratky ist das typische Modell des derben bierseligen Volksvertreters. Der Freund deftiger Witze und scheppernder Volksmusik gibt mit seinen unappetitlichen Körpergeräuschen den Generalbass vor. Schwester Manuela erscheint als rettender Engel. Sie bringt Novak die Oper als Zaubermittel gegen Kratky. Die passionierte Opern-Botschafterin vertritt die Kunst als produktive ästhetische Haltung gegen den Tod. Nicht erst in der Aufführung der „Madame Butterfly“ erscheint Novak die zarte Gestalt Manuelas im türkisgrün schimmernden Kleid mit dem aparten Schönheitsmal auf goldfarbener Haut beinahe überirdisch schön. Wie auf der Jagd nach einem exotischen Schmetterling versucht Novak seiner „Madame Butterfly“ nach der Aufführung über Treppen und durch Gassen hinterherzueilen. Doch seine Liebesbotin und Schönheitsgöttin fliegt ihm davon. Störenfried ist Novaks Ehefrau Herta. Sie tritt als eifersüchtiger Racheengel auf die Bühne. Mit boshaften Intrigen und unerbittlicher Gattinnenliebe versucht sie jeden Befreiungsversuch Novaks im Keim zu ersticken. Die fremdenfeindliche Haarsalon-Königin steht für die gnadenlose Sanktionierung des Individuums durch die Gesellschaft. Franz Novak schließlich ist der klassische Typ des überangepassten Beamten. Erst mit der Welt der Oper lernt er etwas bislang Unerhörtes kennen. Novak wird hellhörig, im wahrsten Sinne des Wortes. Alltagsgeräusche werden ihm zur Qual. Den Gesängen der Amseln dagegen lauscht er plötzlich mit wachem Ohr. Wer nicht fühlen will, muss eben hören. Wer aber zu hören lernt, kann auch wieder fühlen – die Grundvoraussetzung selbstständigen Denkens und Basis jedes individuellen
Handelns.

In Henischs „Großes Finale für Novak“ wird Oper zum pädagogischen Heilmittel gegen die herrschenden individualitätsfeindlichen Verhältnisse. Henischs Opern-Krimi ist ironischer Anti-Bildungsroman, dramatisch-komisches Musik-Theater und Räuberpistole in einem. Die Komik der ironischen Dialoge und scherenschnittartigen Figuren überzeugt besonders in der ersten Hälfte. Danach rückt der Humor manchmal ein wenig zu weit hinter die gesellschaftskritische Operndidaktik zurück.

Interview

Thomas Jorda, in BESTE SEITEN, Extrablatt der österreichischen Zeitungen und Magazine zur Buch Wien 11

Jorda: Herr Henisch, Sie sind mit 68 Jahren bedeutend älter als Ihr Held. Franz Novak ist erst 55.
Henisch: 55 ist auch nicht mehr ganz jung. Außerdem ist 68 eine gute Zahl.

Jorda: Warum denn das?
Henisch: Sie erinnert mich an ein Jahr, das in meiner Generation eine gewisse Rolle gespielt hat.

Jorda: Haben Sie mit Ihrem Novak etwas gemeinsam?
Henisch: Ich habe mich in die Haut des Herrn Novak versetzt, wie ich mich immer in andere Rollen hinein denke. Manche Protagonisten sind mir allerdings wesentlich näher gestanden als der Franz Novak. Aber ich kann mir ganz gut vorstellen, was in einem Menschen wie ihm vorgeht. Und das habe ich zu Papier gebracht.

Jorda: Worin unterscheiden Sie sich von der Titelfigur Ihres Romans?
Henisch: Novak ist konfliktscheu, vor allem seiner Frau gegenüber. Das bin ich nicht.

Jorda: Das heißt, Sie hätten sich rechtzeitig gewehrt?
Henisch: Ich habe mich rechtzeitig gewehrt.

Jorda: Sie nennen Ihren Protagonisten meist beim Nachnamen. Was will uns der Name Novak sagen?
Henisch: Novak ist ein Allerweltsname und passt zu einem ganz einfachen, ganz gewöhnlichen Menschen. Ich sehe aber in Novak nicht nur irgendeinen volkstümlichen Österreicher. Ich habe ja auch in dem Buch nirgends ausdrücklich von Wien und Umgebung geschrieben, obwohl bisher alle Kritiker den Roman dort angesiedelt haben. Ich denke, dass dieser Roman nicht nur in dieser Weltecke, sondern auch anderswo lesbar ist. Dass es nur die Menschen in Wien und Umgebung angeht, wäre mir zu wenig.

Jorda: Das Szenario des Buches, einen leisen Krimi an Opernmusik aufzurichten – war das plötzlich da?
Henisch: Ich habe die Idee zur Personenkonstellation schön längere Zeit mit mir herumgetragen. Ich habe sie notiert und überlegt: Welche Art von Musik könnte den Mann derart irritieren? Außerdem ist Opernmusik jene Musik, die sich am besten erzählen lässt. Sie ist mit Geschichten verbunden, die im Kopf entstehen.

Jorda: Einen konkreten Anlass, etwa eine Zeitungsnotiz im Chronikteil gab’s also nicht?
Henisch: Keinen. Es war die Beziehung zwischen drei Personen, die mich interessiert hat. Ich habe immer stärker die Neigung, aus Konstellationen heraus etwas zu entwickeln und nicht bloß aus einer Person heraus, die mehr oder minder dem Autor entspricht.

Jorda: Als alter Feminist fällt mir auf, dass Novaks Ehefrau Herta nicht sehr sympathisch gezeichnet wird, wohingegen man mit Novak bald Mitleid hat.
Henisch: Der Vorwurf, einen antifeministischen Text geschrieben zu haben, überrascht mich. Bisher hat es immer geheißen, der Henisch ist ein Gutmensch und nichts Böses kommt in seinen Texten vor. Jetzt habe ich halt einmal eine Person beschrieben, die nicht von vornherein sympathisch ist. Aber ich dämonisierte Herta nicht. Außerdem darf man nicht vergessen, dass Großes Finale für Novak ein Buch mit Ironie ist und die Oper als Grundmodell hat. Es geht darin opernhaft zu und es endet auch opernhaft.

Jorda: Das große Finale!
Henisch: Und dass es anderseits auch ein subtiler Krimi ist, macht keinen Widerspruch. So sind die Opern! Da spielt sich oft Kriminelles ab. Im Übrigen habe ich meine Figur Herta so sehr geliebt, dass ich sie vor dem Finale noch von ihren Sünden lossprechen ließ. Von einer Taxlerin, die sagt: Ego te absolvo!

Jorda: Vieles bleibt offen …
Henisch: Ist doch schön. Offene Schlüsse haben mich immer fasziniert, ich halte es für eine dramaturgische Tugend, dass nicht alles zu Ende erklärt wird.

Jorda: Apropos Schluss. Eine Verfilmung würde wahrscheinlich mit der Schlussszene beginnen.
Henisch: Spektakulär mit dem Schluss zu beginnen, das habe ich beim Schreiben auch schon überlegt, bin aber davon abgekommen. Ich wollte die Spannung allmählich aufbauen, nicht vorschnell vorwegnehmen, was am Ende passiert.

Jorda: Sex kommt bei Ihnen eher rhetorisch vor. Haben Sie nicht daran gedacht, solche Szenen etwas ausführlicher zu beschreiben.
Henisch: Was heißt rhetorisch? Ich würde sagen: Nicht um des Effekts Willen drastisch. Mir gehen Autorinnen und Autoren, die auf diesem Wellenkamm surfen, schwer auf die Nerven. Irgendwer hat übrigens bemängelt, dass der Schluss nicht originell sei. Ich schreibe einen Schluss aber nicht, weil er originell ist, sondern weil er konsequent ist. Originalität ist Sache der Kabarettisten.

Interview

Günther Eisenhuber (der das Buch lektoriert hat) interviewt seinen Autor (Residenz Magazin)

Lieber Herr Henisch, Franz Novak, der Held Ihres jüngsten Romans, gerät spät im Leben auf Abwege, als er seine Leidenschaft für die Oper entdeckt. Wie halten Sie es mit der Oper?
Was Opern betrifft, so war ich, als ich den Roman zu schreiben begonnen habe, nicht ganz so naiv, wie mein Protagonist. Aber so viel ist wahr, daß ich mich sozusagen auf Novaks Spuren, auf etwas andere Weise im Kosmos der Oper umgetan habe, als vorher. Das ist ja recht häufig so, wenn ich einen neuen Roman schreibe. Bis zu einem gewissen Grad gehe ich dann als der Stuntman meiner eigenen Figuren durch die Welt.
Das heißt aber nicht, daß zwischen Novak und mir allzu viele Ähnlichkeiten bestehen. Daß man sich als Autor bis zu einem gewissen Grad mit seinen Figuren identifiziert, sozusagen arbeitshypothetisch, ist ja eine gute, alte Methode. Aber indem man sich bei dieser Gelegenheit sehr intensiv mit den Dingen beschäftigt, die so einer im optimalen Fall doch sehr lebendig werdenden Figur im Kopf herumspuken, bleibt meist so etwas wie ein Nachklang. Bei mir ist das oft ein musikalischer Nachklang: Im Fall meines Buchs„Morrisons Versteck“ war es Nachklang der Rockmusik, im Fall meines Romans „Schwarzer Peter“ waren es der von Blues und Jazz, dann, nach der ‚Sehr kleinen Frau’ war es vor allem die Klaviermusik von Schubert, und jetzt hat mich überraschender Weise die Oper erwischt.

Die Oper ist heute den meisten wohl eher ein Anlaß zum Ausführen von Abendgarderobe, ein Anlaß zu zeigen, wer man ist. Franz Novak ist Postbeamter. Als es ihn erwischt, liegt er im Spital und trägt vermutlich Pyjama. Man könnte ihn darum beneiden, daß es ihn so unvorbereitet trifft …
Ja, daß Novak Opernmusik vorerst nicht im guten Anzug sondern im Pyjama hört, ist wahrscheinlich von Vorteil. Sowohl für ihn als auch für die meisten, die seine Geschichte lesen werden. Da fällt sehr viel weg, was den Zugang zu dieser Musik verstellt. Darüber hinaus wird ihm dieser Zugang ja durch eine nette, indonesische Krankenschwester ermöglicht, ohne sie, die ihm ihre Kopfhörer und die Tonbänder zur Verfügung stellt, würde er ja gar nicht damit anfangen, diese Musik zu hören, der erotische Gehalt dieser Musik wird in dieser Situation etwas unmittelbarer spürbar als bei einem konventionellen Opernbesuch.

Novak setzt Kopfhörer auf, weil sein Bettnachbar schnarcht. Ist die Kunst ein Fluchtort jenseits der Zumutungen der Welt?
Dem Novak werden die Zumutungen der Welt ja eigentlich erst so richtig bewußt, nachdem er mit der Opernmusik in Berührung gekommen ist. Indem er lernt, etwas, das er früher nicht als schön empfunden hätte, als schön zu hören, gewissermaßen als Utopie von Schönheit, bemerkt er, wie häßlich die Welt rundherum ist. Das wird in diesem Buch zuerst auf der Klangebene durchgespielt – die liebe Schwester Manuela hat ihm sozusagen die Ohren geöffnet. Aber vielleicht, schreibt er in einem seiner unabgeschickten Briefe an sie, haben Sie mir ja auch die Augen geöffnet – nach und nach wird ihm zumindest ansatzweise bewußt,, daß die für gewöhnlich für normal gehaltene Welt alles andere als schön und gut ist, und daher eigentlich so, wie sie ist, auch gar nicht wahr sein darf.

Ja eben. Je mehr er sich in die Musik vertieft, desto empfänglicher wird er, aber auch empfindlicher. Überall Straßenlärm, Baustellen, Rasenmäher, seine Frau Herta … – ein Mann auf der Flucht?
Ein Mann auf der Flucht. Ja, das auch. Aber nicht nur vor dem Lärm und vor seiner Frau. Sondern vielleicht auch vor der Spannung, die sich da aufbaut. Der Spannung zwischen Herta und ihm, zwei Eheleuten, die bis dahin halbwegs friedlich miteinander ausgekommen sind. Nach seiner Rückkehr aus dem Spital ist er ja ein anderer. Etwas für Herta Fremdes hat von ihm Besitz ergriffen. Etwas, das sie nicht akzeptieren will und kann, auch weil sie vermutet, daß da eine andere dahinter steckt. Und das treibt auf ein Krimi-Ende zu, auch wenn der Roman kein Krimi im engen Sinn dieses Wortes ist. Doch es gibt solche Krimis der sozusagen subtileren Sorte, etwa bei Georges Simenon und bei Patricia Highsmith, und die gehören meines Erachtens zu den besten.

Der Blick auf die Figuren, die ihre Bücher bevölkern, ist oft ein schmunzelnd ironischer, aber immer ein sehr menschlicher. Dabei verrät er aber auch ein überaus waches Bewusstsein für die Schwächen, Unzulänglichkeiten und Ungeheuerlichkeiten. Ist Ihnen nie danach, richtig böse zu sein?
In einer Würdigung meines Buchs „Die kleine Figur meines Vaters“ hat der Kollege Erich Hackl angemerkt, daß ich meine Figuren nie denunziere. Darauf bin ich stolz. Und darum bemühe ich mich nach wie vor. Ich versuche Personen zu schaffen, ich begnüge mich nicht mit Abziehbildern. Selbst wenn ich eine von ihnen umbringen muß, und selbst wenn das eigentlich eine unmögliche Person ist, merke ich, wie viel Empathie für sie ich mir bis zu diesem Zeitpunkt schon erschrieben hab.
Das heißt: Ich bin als Autor nicht leichtfertig böse. Das Böse als Attitüde, das liegt mir nicht. Ich halte auch nicht viel von diesbezüglicher Effekthascherei. Das wirklich Spannende in der Literatur ist für mich ganz etwas anderes.

Einleitung zur Präsentation im Theater(café) an der Wien

Cornelius Hell

„Totes Glück: Das ist ein existenziell tragisches Motiv des uneigentlichen Lebens im Wohlstand, im Frieden, am Montagmorgen unter blühenden Akazien. Bestenfalls gelingt es einem, den Glauben daran, dass man ein glücklicher Mensch sei, damit zu verwechseln, dass man tatsächlich keiner ist. Daraus mag sich eine tiefe Form der Leblosigkeit entwickeln, die umso tiefer reicht, je weniger dem unglücklich Glücklichen noch bemerkbar wird, dass ihm das Gefühl, lebendig zu sein, abhandenkam. Nicht die schlechteste Definition des Glücks in unserer glücksversessenen Zeit wäre daher: Glück ist das Gefühl, lebendig zu sein.“

Diese Sätze des Grazer Philosophen Peter Strasser aus seinem jüngsten Buch über das Glück sind mir bei der Lektüre des Romans „Großes Finale für Novak“ von Peter Henisch gleich wieder eingefallen. Wahrscheinlich lebte ja auch dieser Franz Novak im Glauben, er sei ein glücklicher Mensch; oder zumindest kein unglücklicher. Doch das Gefühl, lebendig zu sein, war ihm sicher abhanden gekommen – ohne dass er das allerdings groß bemerkt hätte. Er war also in dieser tiefen Form der Leblosigkeit versunken. Allerdings weiß er das erst, als er sich wieder lebendig fühlt. Franz Novak ist einer der vielen, denen das Glück langsam und lautlos abhanden kam. Und die in der Leblosigkeit ganz gut leben können.

Franz Novak: 55 Jahre alt, seit 30 Jahren verheiratet mit Herta, der einzige Sohn Bernd lebt seit Jahren in Kanada. Novak war Postbeamter in einer Marktgemeinde namens Grabern, beruflich hatte er noch eine Hoffnung: Amtsleiter werden. Aber leider: Das Postamt wurde geschlossen und Franz Novak in Frühpension geschickt. Das Postamt, die Donnerstagabend-Schachrunde im Gasthaus und die SPÖ – das war seine Heimat. Und natürlich das Haus in der Siedlung, das umgebaute Schrebergarten-Haus, das er mit Herta bewohnte, seit sie von Wien nach Grabern gezogen waren. Herta ist Friseurin, hat einen kleinen Laden und eine schrille Stimme – und sie kann Opern nicht ausstehen. Sie kann überhaupt vieles nicht ausstehen, vor allem Ausländerinnen und Ausländer nicht; Franz muss ständig kalmieren – kein Wunder, dass er im Lauf der Jahre immer ruhiger geworden ist. Er war pflegeleicht, sagte seine Herta über ihn. Er war duldsam, sagt der Erzähler. Es kommt darauf an, dass man miteinander auskommt, hätte Novak gesagt. Einen treuen Ehekrüppel nennt ihn der Erzähler einmal, als er sich ein bisschen Luft macht. Im Normalfall hat der Erzähler keine so große Distanz zu seinem Franz Novak, er erzählt aus Sympathie zu ihm. Herta allerdings lässt er zunächst als eine erscheinen, die man in Wien eine Bissgurn nennen würde. Bis er einmal ein Fenster in die Vergangenheit aufmacht und Franz sich an die Stimme der jungen Herta erinnern lässt: „Die Stimme eines erst vor kurzem aus dem Ohrfeigenregime eines sonst hilflosen Vaters entkommenen Mädchens, einer von ihrem Lehrherrn, einem gewissen Herrn Stephan, auch eher rauh angefaßten und gelegentlich angegrapschten jungen Frau, die sich einen Mann wünschte, an den sie sich anlehnen konnte, der seinen Arm um sie legte und sie im Bedarfsfall beschützte.“ Ideale Voraussetzungen, könnte man sarkastisch sagen, für ein trautes Heim, versüßt mit vielen Mehlspeisen. Oder wie es der Erzähler anhand einiger Fotos auf den Punkt bringt: „Herta und er in verschiedenen Stadien ihrer ehelichen Verformung“.

Doch mit einem Mal gerät alles aus der Balance. Franz Novak musste ins Spital – fast wäre es schon zu spät gewesen für seine Gallenstein-Operation. Und im Zimmer neben Novak liegt Kratky – fett, furzend und pausenlos Regionalsender hörend. Novak kann nicht schlafen und findet keine Ruhe mehr, aber eine indonesische Krankenschwester hat Verständnis: Sie borgt ihm ihren Kassettenrekorder – mit Opernmusik. Da überkommen ihn ungeahnte Gefühle. Seine Opern-Erfahrung ist unmittelbar, durch keine Kultur-Routine gebremst, nicht heruntergedimmt durch routinierte Einordnung in Bildungswissen. Nein, Franz Novak muss sich ja erst mit Opernführern und Reclam-Heften mühsam vorantasten in diesem Neuland.

Als Novak wieder nach Hause kommt, ist er völlig verändert: Er hört mehr und auf neue Weise. Er lauscht den Amseln. Und er kann die Rasenmäher, Laubsauger und die Bohrmaschine des heimwerkenden Nachbarn nicht mehr ausstehen. Die Kunst hat ihn allergisch gemacht gegen den künstlichen Lärm. Das ist vielleicht eine der anrührendsten Szenen des Romans – als Franz Novak die alte Sense sucht und den Rasen mäht, weil er das barbarische Knattern des Rasenmähers abstellen muss.
Erinnerung an die Handarbeit gegen immer neue Maschinen – das ist eine der Blickachsen, die aus der individuellen Geschichte des Franz Novak immer wieder hinausführen in ein Zeit- und Gesellschaftspanorama. Und dabei werden Verluste sichtbar: das Veröden des Ortszentrums, der Lärm in der Siedlung durch technische Aufrüstung, Verluste an Intimität durch das Verschwinden der alten Telefonhäuschen; aber auch: Verlust von Gesinnung in Franz Novaks Partei, der SPÖ. Hier wird allerdings kein naives Lied von der guten alten Zeit gesungen – schon das Mähen mit der Sense gelingt Franz Novak ja nicht wirklich –, aber der Vergleich mit früher zeigt eben nicht nur Gewinne, sondern vor allem auch Verluste, die ein eindimensionaler Blick auf die Gegenwart gar nicht mehr wahrnimmt.

Ausgelöst werden Novaks Wahrnehmungen aber durch die Musik – die sich von Anfang an mit einer scheuen Liebe zu Schwester Manuela verbindet. Doch ausleben kann Franz Novak nur die Liebe zur Musik, zur Oper. Und schon dafür muss er von zu Hause ausziehen und sich eine Pension am Stadtrand von Wien suchen. Und ein einziges Mal gelingt es ihm wirklich, in die Staatsoper zu gehen und „Madame Butterfly“ zu erleben.

Doch dann scheint die Oper doch auch eine Sackgasse zu sein – Novak hat einen körperlichen Zusammenbruch, seine Frau muss ihn retten und heimholen. Aber bald muss Novak erfahren, dass seine Frau die berufliche und private Existenz von Schwester Manuela ruiniert hat. Da explodiert der Roman zu einem großen Finale.

Wieder einmal spielt also die Musik bei Peter Henisch eine große Rolle. In „Morrisons Versteck“ war es die Rock-Musik, im „Schwarzen Peter“ der Blues, in „Eine sehr kleine Frau“ die Klaviermusik, vor allem von Franz Schubert, und jetzt ist es die Oper. Und wieder einmal hat Peter Henisch einen Außenseiter in den Mittelpunkt gestellt – wie schon den „Baronkarl“ oder eben den „Schwarzen Peter“. Aber diesmal ist es einer, der erst zum Außenseiter wird, der den Roman zunächst als ein geradezu Über-Angepasster betritt. Die Kraft zu seinem Ausbruch holt er sich aus einem Bereich, der einmal im Zentrum der sogenannten Hochkultur gestanden ist – der Oper. Heavy-Metal-Musik beruhigt ihn, weil sie den Lärm niederdröhnt, aber die Oper wühlt ihn auf.

Sie wühlt ihn derart auf, dass sie ihn am Ende aus seinen bisherigen Lebenszusammenhängen hinauskatapultiert. Er hat nur mehr sich selbst. Aber er spürt sich wieder, spürt, dass er lebendig ist. Und ich denke Peter Strasser hat recht: das wäre eine gute Definition von Glück.

Die Midlife-Crisis zeigt sich bei Franz in vierfacher Gestalt

Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten

Der Schriftsteller Peter Henisch liebt die Musik. In seinem neuen Roman liefert die Oper die dramatischen Begleittöne zu einer Ehekrise.
Franz Novak ist 55, seit mehr als drei Jahrzehnten Postbediensteter in der niederösterreichischen Marktgemeinde Grabern, seit 30 Jahren verheiratet mit Herta, einer Achtundvierzigjährigen mit herbem Charme, die einen kleinen Friseurladen betreibt. Der gemeinsame Sohn Bernd lebt seit Jahren in Kanada. Und auch sonst hält sich das Abenteuer in Grenzen.

Franz und Herta treiben in jener gesicherten Mittellage dahin, die durch folgenden Satz repräsentiert wird: Wir haben es doch schön hier draußen in unserem durch eine Veranda erweiterten Schrebergartenhäuschen.

Diese grundsolide Ausgangssituation lädt ein zu einer handfesten männlichen Midlife-Crisis. Franz Novak begegnet die Krise gleich in vierfacher Gestalt: als Gallenoperation, als erzwungene Frühpensionierung, als Krankenschwester Manuela und als völlig unerwartete Leidenschaft für die Oper.

Wobei Manuela und die Oper in einer heiklen Verbindung stehen. Denn die aus Indonesien stammende Krankenschwester ist es, die Novaks junge Liebe zur Oper entfacht. Als Herta diesen Zusammenhang erkennt, läuten bei ihr die Alarmglocken. Und wenn bei Herta einmal die Alarmglocken läuten, ist das Geräusch unüberhörbar und schwer erträglich. Insbesondere für Franz, dessen Gehörsinn seit dem Krankenhausaufenthalt recht sensibel geworden ist.

Franz Novak packt die Reisetasche und zieht sich von seiner Frau zurück, aber Herta ist nicht der Typus Frau, der in solch einer Lage kampflos resigniert. Sie verteidigt ihr Revier und wendet dabei Mittel an, die ziemlich unsauber sind, aber durch den Zweck geheiligt werden – zumindest in Hertas Vorstellungswelt. Zu dieser Vorstellungswelt gehören auch Hassbilder von asiatischen Sex-Hexen, die an sich harmlose europäische Männer verzaubern. Obwohl die Sympathien des auktorialen Erzählers auf der Seite von Franz liegen, mehr noch auf der von Manuela, vermeidet er die plakative Parteinahme. Durch Perspektivenwechsel lässt Peter Henisch auch Herta Gerechtigkeit widerfahren und macht ihre Gefühle und Gedanken plausibel, ohne sie deswegen zu rechtfertigen.

Denn eines ist am Ende auch klar: Das Leben ist unberechenbar, insbesondere das Liebesleben. Und wer meint, durch besonders raffinierte Strategien Erfolg zu haben, steht gerade dadurch am Ende als Verlierer da.

Peter Henisch erweist sich hier wieder einmal als genauer Menschenbeobachter, der seine Romanfiguren, ihr Verhalten, ihre Sprache, ihr Verhängnis überzeugend aus ihren realen Lebensverhältnissen heraus kreiert. Sozialer Realismus im allerbesten Sinn des Wortes!

Henisch beherrscht das Erzählen auch in handwerklicher Hinsicht meisterlich. Spannungsbögen, pointierte episodische Sequenzen und punktgenau gesetzte Wendepunkte machen das Lesen dieses Eheromans zu einem spannenden Vergnügen.

Der Postler und die Oper

Sebastian Fasthuber, Now!

Darf man in einem Magazin für Popkultur über einen Roman schreiben, in dem die Oper eine bedeutende Rolle spielte? Blöde Frage, natürlich darf man. Zumal es nicht schaden kann, ab und zu seinen Horizont zu erweitern. Franz Novak, dem Helden von Peter Henischs neuem Roman, geht es außerdem anfangs mit der Opernmusik so ähnlich wie vielen an Pop- und Rockmusik gewöhnten Ohren. Er fragt sich: Warum wirkt Opergesang so furchtbar grell und pathetisch? Novak liegt nach einer Gallensteinoperation im Spital und leidet an der zünftigen Regionalradio-Berieselung, mit der ihn sein Zimmerkollege zwangsbeglückt. Eine aus Indonesien stammende Krankenschwester versorgt ihn darauf mit einem Walkman und Opern-Kassetten – was dem bislang mit Joe Cocker und Tina Turner zufriedenen Postbediensteten Mitte 50 eine neue Welt eröffnet. Nach seiner Entlassung findet er nicht mehr in sein altes Leben zurück. Seine Frau Herta mit ihrem Frisiersalon und ihrer Fremdenfeindlichkeit ist ihm unangenehm, gleiches gilt für die Rasenmähergeräusche aus den Nachbargärten. Dass man Novak zudem in Frühpension schickt, bringt das Fass zum Überlaufen. Er verlässt sein Schrebergartenhaus in Niederösterreich und geht nach Wien in Tagträumen von „seiner“ Krankenschwester auf. Großes Finale für Novak ist ein glänzend erzähltes Buch mit einem hochsympathischen Helden – und einem Ende so dramatisch wie ein Opernfinale.

Mortimer & Miss Molly

Helmut Schödel, Süddeutsche Zeitung
Beate Tröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Oliver Pfohlmann, Neue Zürcher Zeitung
Heinrich Steinfest, Stuttgarter Nachrichten
Walter Grünzweig, Album, der Standard
Thomas Rothschild, Die Presse
Sebastian Fasthuber, Salzburger Nachrichten

Aus der Schule der Unverfrorenheit

Helmut Schödel, Süddeutsche Zeitung

Dem Schriftsteller Peter Henisch ist nicht zu trauen. Diese Warnung durchzieht viele Rezensionen seiner Bücher, mehrheitlich Romane, in denen er die abenteuerlichsten, gleichwohl bestens recherchiert wirkenden Geschichten auftischt. Trotz seiner überschwänglichen Fabulierlust vergisst Henisch nie die Details, und wie fein hingetuscht auch alles anmutet in dieser famosen Leichtigkeit, erreicht es immer wieder die Kraft des Faktischen. Aber dann wird man gewahr, dass die Hauptsätze seiner Prosa Fragesätze sind. Er ist der Mann der 1000 Fragezeichen. Und ein großer Ironiker. Über allen interpretatorischen Bemühungen steht das Lächeln des Autors.

In „Der verirrte Messias“ (2009) hatte er seinen Lesern einen Mann vorgestellt, der sich nach genauerer Bibellektüre mit Jesus identifiziert. Sein gelebter Nachvollzug des Neuen Testaments wird allerdings in Briefen an eine gewisse Barbara, eine Literaturkritikerin, gespiegelt, der man auch nicht ganz trauen will, weil sie behauptet, sie habe an Händen und Füßen dieses Mannes Stigmata gesehen. Ein anderer Glaubensbeweger sieht aus wie der frühere amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, und am Ende bleibt die diesmal allerdings strikte Frage, wie es denn eigentlich mit der Erlösung steht nach 2000 Jahren.

„Morrisons Versteck“ (1991/2001) wiederum ist ein geniales Stück aus der Schule der Unverfrorenheit. Eine Fotografin soll einen Mann namens Paul, einer jugendlichen Henisch-Abspaltung, mitgeteilt haben, dass ihr das Popidol Jim Morrison, der ehemalige Frontman der Doors erschienen sei, als Exhibitionist in der Hecke eines offenbar verwunschenen, auf drei Seiten von einer Mauer umgebenen Garten. Die Topoi deutscher Romantik, aus der sich wohl auch der ironische Gestus herleitet, gehören fix zu Henischs Welt.

Henisch gab vor, eine Biografie schreiben zu wollen, „ ein alter Hut, spätestens seit Plutarch“, und aus einem Objekt der Pop-Industrie ein Subjekt zu machen, aus dem großen Pan mit dem „ bisexuellen Appeal“ dieser „männlichen Brigitte Bardot“ einen Menschen. Morrison war ein Mann aus Henischs Jahrgang, 1943, aber sein Versteck wurde letztlich nicht gefunden. Nach Abschluss seiner Arbeiten fuhr der Erzähler über Land. Er mietet sich ein Zimmer und schläft. „Lang. Am Morgen riss ich das Fenster auf. Da sah ich die Mauer und dahinter den Garten.“ Aber Jim Morrison sah er nicht.

Der Untertitel seines Romans „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ (1994) lautet „Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete“. Ein junger Mann (Kafka) und ein älterer Herr (Karl May) und eine für den Herrn zu junge Dame (Herzle) wagen eine Seefahrt. Nach New York. Aber nach der Ankunft geht es diesem Kafka wie Karl Rossmann in Kafkas „Amerika“-Roman. Das Labyrinthische an Henischs Texten ist, was literarische Bildung angeht, nicht vollkommen voraussetzungslos.

Gleichzeitig ist er ein Wiener, absolut lokalisierbar, weshalb es auch Texte mit eindeutigem Lokalkolorit von ihm gibt, zum Beispiel eine Recherche über den „Barobkarl“ (1972), einen Obdachlosen von Format, vielleicht Henischs Antwort auf Qualtingers „Herr Karl“. Aber auch seine Stadtrecherchen machen keinen Österreich-Beschimpfer oder Wien-Verächter aus ihm, seine Munition bleibt das Fragezeichen.

Henisch gilt als Sonderfall der österreichischen Literatur, der sich in „Die kleine Figur meines Vaters“ (1975/2003) mit der NS-Vergangenheit seines Erzeugers auseinandersetzte. Jetzt – Ende August siebzig geworden – hat er einen Roman über die Liebe vorgelegt. „Mortimer und Miss Molly“, keinesfalls ein Alterswerk, sondern so unverfroren wie eh und je, was schon der erste Absatz beweist. „Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Dieser Renaissancegarten ist geometrisch gestaltet, sechs von Hecken gesäumte Trapeze umgeben ein kreisförmiges Zentrum. Radius: Nicht mehr als fünf Meter. In diesem Zentrum landet Mortimer. Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schöne Szene.“ Schon am Anfang ist alles Vermutung. Und gleich schiebt sich das erste Fragezeichen in den Text.

Mortimer wurde im Frühling 1944 mit seinem Jagdbomber von der deutschen Flak abgeschossen, rettete sich mit dem Fallschirm und fand sich in dem kleinen Ort San Vito in der Toskana wieder, heimlich aufgenommen von Molly, einer englischen Gouvernante der berühmten Adelsfamilie Bianchi. Hat sich die schüchterne, allein lebende Molly daraufhin auf eine Liebesgeschichte mit einem Bomberpiloten eingelassen, der Hemingway zum Verwechseln ähnlich sieht? Darüber spekulieren Marco aus Turin und Julia aus Wien, zwei Toskana-Touristen, die einander liebend zugetan sind. Marco will statt Arzt Filmemacher werden, und so erfinden sie sich eine Geschichte für ein Drehbuch über Mortimer und Molly, um damit zugleich ihre eigene Liebesgeschichte zu entfalten. Erzählend machen sie sich Mut.

Das alles stimmt schon irgendwie, sagt aber über den Roman nicht viel, nichts über diese unerhörte Leichtigkeit des Erzählens, seine sommerliche Welt, über die immer wieder Gewitter hereinbrechen, wobei Henischs ironische Distanz wie ein Blitzableiter wirkt. Da ist wieder dieser romantische Garten, in dem Mortimer erscheint wie Morrison in seinem Versteck, und eine Liebesgeschichte, die nur vermutet ist, und wenn es Belege gibt, könnten sie Fälschungen sein, vielleicht von Marco selber, weil er die Liebe finden will, und für seine eigene Geschichte nach dem Beweis ihrer Möglichkeit sucht. Aber ist denn eine so blaustrümpfige Gouvernante wie Molly zu einer richtigen Liebesbeziehung mit einem in Amerika verheirateten Hemingway-Lookalike überhaupt fähig?

Festzustehen scheint, in Bedrängnis liebt es sich leichter. Mortimer und Molly sind bedroht von der Gewalt des Krieges und den Wirrnissen der Politik, da ist für Beziehungskisten-Getue kein Platz, was Marco und Julia in ihrer späteren Fernbeziehung zwischen Turin und Wien kräftig ausleben, inklusive einer befürchteten bösen Schwiegermutter.

Aber bevor man das Buch so erzählt, als setze es auf die Verbreitung grundsätzlicher, sehr seriöser Erkenntnisse über die Liebe, muss man an das handelnde Personal erinnern: ein Bomberpilot, ein Blaustrumpf, eine Julia, ein Möchtegern-Künstler und eine Schwiegermutter. Da wäre es im Normalfall bis zur Klamotte nicht weit. Im Hintergrund die Hügel der Toskana und eine Dorfbevölkerung wie aus einer Langzeit-Dokumentation. Aber das ist eben diese Schule der Unverfrorenheit, die Henisch zu seinen Drahtseilakten abheben lässt. Eines jedenfalls scheint sicher: Seine viel gerühmte Leichtigkeit ist nicht nur ein genialer Zug oder eine stilistische Volte. Es steckt viel Melancholie in Henischs Art zu schreiben. Sie zeigt uns: So leicht könnte alles sein. Um dann natürlich die Frage nachzuschieben. „Könnte es?“- und schwer ist schließlich leicht was.

Der stets zurückhaltende Peter Henisch mit Zweitwohnsitz in der Toskana ist viel geehrt und auch ausgezeichnet worden. Dabei hat man zu sehr auf das Artistische, Spielerische, Tänzelnde geachtet. In seiner wahren Dimension scheint er noch nicht erkannt worden zu sein. Er ist einer der großen Dichter Österreichs.

Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly: Umso schlimmer für die Wirklichkeit

Beate Tröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Liebe und Illusion gehen gern Hand in Hand. Doch oft folgt dem Liebestraum die Ernüchterung. Das müssen auch die Liebenden in Peter Henischs jüngstem Roman irgendwann erfahren. In „Mortimer & Miss Molly“ trifft in einem Sommer in den achtziger Jahren der Turiner Marco, der gerade sein Medizinstudium beendet hat, aber lieber Regisseur werden möchte, in Siena die Wiener Kunsthistorikerin Julia, die dort Italienisch lernt. Die beiden verlassen die Stadt, landen in einem Dorf in der Crete und beschränken ihren Radius zunächst auf die Kuhle eines Hotelbetts, wo sie sich in der Sprache Frischverliebter verständigen, die ohne viele Worte auskommt.

Wenn von Marco gesagt wird, er würde lieber Filme drehen, so ist das kein unbedeutendes Detail. Peter Henisch, Autor zahlreicher Romane und Gedichte, Musiker und Mitbegründer der Zeitschrift „Wespennest“, der heute siebzig wird, führt in „Mortimer & Miss Molly“ neuerlich vor, wie virtuos er Handlung und Konstruktion seiner Romane miteinander zu verzahnen weiß, dabei feine Anspielungen an Mythen, Filme und Literatur einwebt, erzähltechnisch versiert, leichthändig und unaufdringlich einer märchenhaften Unmittelbarkeit entgegensteuert, um das Erzählte in seiner Gestaltetheit umso intensiver nachhallen zu lassen.
Amerikanischer Soldat trifft englische Gouvernante

„Mortimer & Miss Molly“ beginnt wie ein Film oder ein Theaterstück, bei dem ein Scheinwerfer einen Kreis aus Licht auf die dunkle Bühne wirft. Die Bühne ist in diesem Fall ein in dem fiktiven Dorf San Vito gelegener, geometrisch gestalteter Renaissancegarten namens Horti Valentini, den der Toskana-Liebhaber Henisch den Horti Leonini in San Quirico d’Orcia nachempfunden hat. Mortimer Mellows, ein amerikanischer Soldat, muss 1944 mit seinem Fallschirm in der kreisförmigen Mitte des Gartens notlanden, nahe dem Haus, in dem Miss Molly, die englische Gouvernante einer reichen italienischen Familie, seit Jahren lebt.

Doch all das ist vielleicht nur Phantasie, was Henisch kenntlich macht, indem er, ähnlich wie Raymond Federman in „Eine Liebesgeschichte oder sowas“, den Konjunktiv wählt: „Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt.“ Was für ein erster Satz, in dem jemand als deus ex machina und fallender Engel zugleich in die Handlung plumpst. Mortimer versteckt sich bei Molly vor den deutschen Besatzern, und die beiden erleben die göttlichen und irdischen Momente der Liebe.
Phantasie der Geschichte beflügelt die der Liebenden

Marco und Julia erfahren all dies aus dem Mund Mortimers, der eines Abends vor ihrer Zimmertür steht und ihnen von der Vergangenheit zu erzählen beginnt. Doch ehe die Geschichte über die Liebe „im Widerstand gegen die Zeit“ zum Ende gekommen ist, verschwindet er – und bleibt es. Das Erzählte hat sich aber in Julias und Marcos Kopf festgesetzt. Sie fassen den Plan, ein Drehbuch zu schreiben, das ausspinnt, wie es weitergegangen sein könnte. Ihre Phantasie befeuert auch ihre Liebe. Sie treffen sich wieder, reisen jeden Sommer nach San Vito, um mit Mortimers und Mollys Liebesgeschichte ihre eigene immer neu zu beleben, bis die Frage, ob sich die „periodische Sommerliebe in eine Liebe für alle Jahreszeiten“ verwandeln ließe, drängend im Raum steht.

Die dräuende Krise bricht schließlich aus im Streit über die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion, über die Frage, ob Mortimer die beiden auf eine falsche Fährte gelockt hat. Ein alter Arzt aus dem Nachbardorf zeigt sich amüsiert, als Marco und Julia ihm von Mortimer und Miss Molly erzählen. Die beiden ein Paar? Unmöglich! Marco schenkt schließlich dem Arzt Glauben. Die Wirklichkeit sehe eben anders aus, als Julia und er sie sich ausgemalt haben. Wenn Julia mit einem wütenden, hegelianisch gefärbten „Umso schlimmer für die Wirklichkeit“ kontert, um am Ideal einer erfüllenden und erfüllten Liebe festzuhalten, ist sie darin ihrem Schöpfer nicht unähnlich.
Kein Abfinden mit den Verhältnissen

Auch Henisch wendet sich im Schreiben gegen eine Auffassung von Wirklichkeit, die sich mit den Verhältnissen abfindet. In „Mortimer & Miss Molly“ dekliniert er in der Spiegelung zweier Liebesgeschichten Möglichkeitsformen der Liebe allerdings nicht durch, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern um ihr etwas vom Zauber zurückzugeben, den sie verliert, wenn sie sich auf das Sicht-, Mess-, Plan- und Verhandelbare beschränkt und Traum und Utopie verrät.

Hallräume für Träume und Utopien eröffnen auch die zeitgeschichtlichen und literarischen Essays und Reden Henischs aus rund vierzig Jahren, die der Band „Außenseiter aus Passion“ versammelt. Sie zeigen den Autor in engagierter Auseinandersetzung mit dem komplizierten Wechselspiel von Wirklichkeit und Traum, von Begrenzung und Freiheit. Diese Fragen sind Gegenstand der Texte, in denen geliebte fiktive Gestalten wie Puh, der Bär, verehrte Künstler wie Mozart, Karl May, E. T. A. Hoffmann, oder Jim Morrison auftreten. Daneben findet sich Anekdotisches, etwa das Erlebnis mit einem Frankfurter Taxifahrer, dem 1995 auf Henischs Frage nach einem Buch eines österreichischen Schriftstellers lediglich Hitlers „Mein Kampf“ einfällt.
Cleverer Menschenfreund

Doch zynisch geht es bei Henisch nie zu. Stattdessen durchzieht seine Texte eine freundliche Ironie, die er als „ästhetisch produktive Haltung gegen den Tod“ begreift. Aufschlussreich auch seine Reflexionen über eigene Romane, darunter der bekannteste „Die kleine Figur meines Vaters“ (1978), der mit Blick auf Fotografien und auf Grundlage von Interviews rekonstruiert, wie Walter Henisch, Pressefotograf und Kriegsberichterstatter im Zweiten Weltkrieg, Teil des nationalsozialistischen Propagandaapparates wurde, obwohl er sich neutral glaubte.

In diesem zeitgeschichtlich wichtigen Roman ist die Wirklichkeit zugunsten trauriger Selbsttäuschungsmanöver in den Hintergrund getreten. In „Mortimer & Miss Molly“ dagegen, so viel sei hier verraten, wird das Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion im zwischen Be- und Entzauberung schwankenden, pointenreichen Finale in Lust und Lebensfreude aufgehoben: Marco und Julia könnten den Erzählfaden womöglich weiterspinnen. Indem der Roman vermittelt, dass auch Sprache der Liebe Nahrung sein kann, spiegelt sich in ihm zudem der liebende Blick seines Autors auf das eigene Tun.

Überleben und Überlieben.

Oliver Pfohlmann, Neue Zürcher Zeitung

Schon sein Sechzigster bescherte Peter Henisch die wohl unvermeidliche Frage nach dem «Alterswerk». Seinerzeit erinnerte der Jubilar den Interviewer daran, dass Autoren diesbezüglich ja bessere Karten als Sportler hätten. Und dass nicht wenige seiner Kollegen erst mit 60 so richtig in Schwung gekommen seien. Heute, ein Jahrzehnt und fünf Romane später, ist klar, dass sich das auch von diesem sympathisch stillen, feinen Wiener Romancier, Lyriker und Musiker sagen lässt, der Kennern seit langem als einer der grossen Epiker der österreichischen Literatur gilt.

Zu Henischs Siebzigstem liegen nun gleich zwei gewichtige Neuerscheinungen vor: neben seinem neuen Roman «Mortimer & Miss Molly» noch eine Sammlung seiner journalistischen Wortmeldungen, Essays, Reden und Interviews zu politischen, gesellschaftlichen und literarischen Themen aus den letzten vier Jahrzehnten. Letztere bestätigt eindrucksvoll, in welchem Masse Henischs Werk eine grosse Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte Österreichs darstellt. Als «wacher Zeitgenosse» schrieb der «Aussenseiter aus Passion» über die zunehmende «Verhaiderung» Österreichs, den Verlust an Sinnlichkeit in der Gegenwartsliteratur oder darüber, was Jim Morrison mit Johann Nestroy zu tun hat.
Anrührendes Denkmal

Fragt man nach dem verbindenden Element zwischen beiden Titeln, so lautet eine mögliche Antwort: Pietro und Bruna. Dieses gemeinsam in Harmonie alt gewordene Ehepaar, das lange Jahre irgendwo in der Toskana eine Bar führte, erinnerte den Autor an den Mythos von Philemon und Baucis, wie er 2003 in einem Essay schrieb. Im neuen Roman setzt Henisch dem Paar nun mit einem Gastauftritt ein anrührendes Denkmal. Und zeigt damit einmal mehr die für sein Werk von Beginn an kennzeichnende Verschränkung von autobiografischen Elementen mit Fiktion, man denke nur an den Roman «Eine sehr kleine Frau» (2007) über seine ihn in die Geheimnisse des Erzählens einweihende Grossmutter.

In «Mortimer & Miss Molly» bringt der Anblick von Pietro und Bruna den Erzähler zu der Einsicht, dass die Liebe «vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte. Mit Widerstand gegen alle widrigen Umstände. Und letzten Endes mit Widerstand gegen die Zeit.» Man sollte diese Passage vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Interviews lesen: In ihnen weist Henisch darauf hin, wie sehr der Tod «im Zentrum» seines Schreibens stehe und dass jede schöpferische Tätigkeit «ein Ankämpfen gegen den Tod» sei. Sind die Liebe und das Erzählen bei Peter Henisch also zwei nahe Verwandte, ja im tiefsten Grund sogar identisch?

Dieser Schluss drängt sich einem angesichts des neuen Romans geradezu auf. Er erzählt eine doppelte Liebesgeschichte. Und während sich die eine Liebe, die der Titelfiguren Mortimer und Miss Molly, vor allem gegen die äusseren Umstände behaupten muss, so die andere, die von Julia und Marco, die vier Jahrzehnte später ihren Anfang nimmt, gegen die Zeit selbst. Anfang der achtziger Jahre gelangen die Wiener Psychologiestudentin Julia und der angehende Mediziner Marco, der lieber Filmemacher würde, liesse seine Mutter ihn nur, eher zufällig in das südtoskanische Dorf San Vito. Sie haben sich gerade erst kennengelernt – nicht mehr als eine vergängliche Sommerliebe, wie es scheint, die Henisch in prägnant-melodischen Sätzen voller Sinnlichkeit beschreibt.
Mortimer und Miss Molly

Dann aber begegnen sie eines Abends dem einzigen anderen Gast in ihrem Hotel, einem alten Amerikaner, der wie Hemingway aussieht und seit vielen Jahren nach San Vito kommt. Dieser Mortimer Mellows aus Minnesota erzählt ihnen, wie einst im Mai 1944 sein Jagdbomber über San Vito – und damit hinter der Front – von den Nazis abgeschossen worden sei und er mit seinem Fallschirm mitten im nahe gelegenen Renaissancegarten gelandet sei. Und wie ihm dort die englische Gouvernante einer wohlhabenden italienischen Familie, Miss Molly, die Tür ihres heckenumrankten Häuschens an der Gartenmauer öffnete, um ihn zu verstecken.

Es sei der Beginn einer ungewöhnlichen Liebe gewesen, behauptet Mortimer, deren weitere Schilderung er dem jungen Paar für den folgenden Abend verspricht. Dazu aber kommt es nicht mehr, anderntags ist der Amerikaner verschwunden. Und von den Dorfbewohnern scheint niemand etwas über Mortimer und Miss Molly zu wissen. «E allora?, sagte Marco. Was machen wir jetzt mit ihnen? / Wir fühlen uns ein, sagte Julia. Wir versetzen uns in ihre Haut.» So beginnen die beiden, fasziniert von der starken Anfangsszene und dem magischen «giardino», ihr Projekt – versuchen mittels ihres Möglichkeitssinns und ihrer Empathie herauszufinden, wie es mit Mortimer und seiner Miss Molly weitergegangen sein könnte, als Stoff für Marcos ersten Film.

Dieser wird, so viel sei verraten, nie gedreht werden. Und doch wird dieses Projekt dieser jungen Liebe Dauer verleihen, für einige Jahre zumindest, in denen Julia und Marco immer wieder nach San Vito kommen und ihre Geschichte weiterspinnen. Bis irgendwann die Widrigkeiten einer Fernbeziehung und Marcos dominante Mutter übermächtig werden. Bis dahin – und vielleicht eines Tages ja wieder? – leben seine Protagonisten vor, was Peter Henisch zeitlebens vertreten hat, den kunstfeindlichen Provokationen seiner Generation, der 68er, zum Trotz: dass Literatur etwas «mit Befreiung zu tun haben sollte, mit Freiheit, auch mit Freiheit der Phantasie», wie er es einmal in einem seiner Interviews formulierte.
Vorbild, Nachbild

Damit bietet der neue Roman aber auch die Umkehrung zu der berühmten, eine Flut von Vater-Sohn-Geschichten initiierenden Kernaussage von Peter Henischs Romandebüt «Die kleine Figur meines Vaters» (1975): «Was du mir vorgelebt hast, mag ich nicht nachleben.» Nur: Wer ist hier Vor-, wer Nachbild? Wenn sich Julia und Marco vorstellen, und nicht nur vorstellen, wie sich Mortimer und Molly einst zum «Überleben und Überlieben» vor den Nazis in einem verfallenen Haus am Fluss versteckt und dort geliebt haben könnten – spielen sie diese Szene dann nach oder für ihr Filmprojekt einander vor? So kommt es in Henischs Roman zu einer aufregenden Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft, für die der steinerne Januskopf im Renaissancegarten symbolisch steht. Und die noch dadurch verstärkt wird, dass auch der Erzähler, der mit seinen Voraus- und Rückblicken gekonnt immer wieder die Leselust anfacht, die Geschichte von Julia und Marco im Möglichkeitsmodus erfindet.

Endlich wieder eine Liebesgeschichte

Heinrich Steinfest, Stuttgarter Nachrichten

Als ich kürzlich in Wien war, wo Peter Henisch seinen 70er feierte und ich ganz spontan Leute auf diesen Autor ansprach, ohne zu wissen, ob sie seine Bücher kennen oder lesen, kamen Äußerungen in der Art von „Ach, den hätte ich für jünger geschätzt!“ oder „Ach, der lebt noch!“. Wie auch immer, in Wien ist der Mann schon lange eine Legende, eine „Figur“, jemand, den man kennt, den Namen nur oder seine Bücher ebenso. In Deutschland hingegen kann schon geschehen, daß selbst Buchhändler fragen, wer das denn sei. Da ist sie halt wieder, die Grenze zwischen A und D, in deren Maschen manches steckenbleibt, was nicht steckenbleiben sollte, anderes durchschlüpft, was sich verfangen sollte. Nein, ich möchte nicht über Hansi Hinterseer sprechen. Sondern über das neue und ganz wunderbare Werk von Peter Henisch, der durchaus immer wieder vom deutschen Feuilleton gewürdigt wird, auch zweimal für den Deutschen Buchpreis nominiert war, aber den Lesern in deutschen Landen noch viel zu wenig ein Begriff ist. Dabei liest er sich – und in diesem Fall ist es ein Kompliment – ganz leicht.

Manche Unkenntnis mag auch mit dem recht austriakischen Hintergrund vieler seiner Geschichten zusammenhängen, diesmal ist es sicher anders. Die Erzählung beginnt in Italien und spielt in Italien, im Frühling 1944, im Zentrum eines Renaissancegartens, als dort ein amerikanischer Pilot mit seinem Fallschirm landet. In einem Garten, der die Form eines gleichschenkeligen Dreiecks besitzt. Oder eher die eines Deltoids? Er ist aus einem Jagdbomber gesprungen. Einer P-40 oder einer P-47? Solche Unklarheiten ergeben sich immer wieder – Siena oder Grosseto? Mai oder Juni? War unter den Katzen nicht auch ein Hund? –, doch die vielen Oders und Vielleichts und die Korrekturen mitten im Satz schaffen mehr eine Ruhe als ein Chaos. Die Fakten sind unscharf, aber die Feststellung von Uneindeutigkeiten glasklar. Und die Figuren unverwechselbar. Immer wieder fügen sich in den deutschen Text die originalen Aussprüche, in Italienisch, Französisch oder Englisch, mal direkt, mal indirekt übersetzt, mal ohne Übersetzung, mal kommentiert. Nie affektiert, immer verständlich. Die Sprachen klingen. „Una persona un po‘ fuori dal tempo, sagte Paolo. Eine Person etwas aus der Zeit? Mit anderen Worten: eine etwas anachronistische Figur? Aber wenn man es so übersetzte, ging die ganze Poesie des Satzes verloren.“ – So erklärt Henisch die Bedeutung des Satzes und leitet den Leser dann doch wieder zum so viel musikalischeren Original.

Der amerikanische Soldat Mortimer Mellows landet also in einer geometrisch geordneten Gartenmitte und landet unter den Augen der englischen Gouvernante Mary Kinley, genannt Miss Molly. Er sucht Deckung und findet solche in einem Haus in der umgrenzenden Mauer, flüchtet sich unter ein Gewölbe, welches Henisch als „Miss Mollys nach unten verlängerter Rock“ definiert und Miss Molly als „Mortimers Schutzmantelmadonna“ kennzeichnet. Diese nicht mehr ganz junge Madonna, sagen wir Mitte vierzig, wird Mortimer in damenhafter Manier retten. Wobei sie von der Maxime ausgeht, zu Fremden nett und freundlich zu sein, weil es sich schließlich um getarnte Götter oder Engel handeln könnte. (Oh ja, auf diese Idee sollten wir alle mal kommen.)

Vierzig Jahre später begegnet am selben Ort das Liebespaar Marco & Julia dem gealterten Mortimer Mellows, der ihnen bei einem guten Essen und viel Wein den Beginn dieser seiner Geschichte erzählt. Tags darauf ist er jedoch verschwunden, höchstwahrscheinlich als Resultat einer nicht verlängerten Aufenthaltsgenehmigung.

Der Erzähler Henisch wagt es also, auf Seite 58 seines Romans ausgerechnet jene Figur, die genau sagen kann, was geschehen ist, damals 1944, aus der Geschichte zu nehmen, eskortiert von zwei Carabinieris, vielleicht ein Stück nur, vielleicht bis nach Rom, wer weiß? Jedenfalls unauffindbar. Und darum also beginnen Marco und Julia, sich den Fortgang der Geschichte selbst auszudenken, inspiriert vom Ort, von San Vito, inspiriert von der eigenen Liebe. Sie versetzten sich in die fremde Haut, fühlen sich ein. Peter Henisch nennt es ein Buch, in welchem „exemplarisch über die Möglichkeit einer scheinbar unmöglichen Liebe reflektiert wird, Liebe als Wille und Vorstellung, auch gegen die scheinbare Übermacht der so genannten Wirklichkeit.“

Das erfundene San Vito zeichnet einen realen, in der Toskana gelegenen Ort wieder, der sich hier wie in einem leicht bewegten See spiegelt. Und es ist eine schöne Übereinstimmung, daß der wirkliche Ort über eine Kirche (Collegiata) verfügt, die ursprünglich dem heiligen Vito geweiht war. Ein Märtyrer und Nothelfer, der über dieser Geschichte wacht.
Durch dieses Buch spaziert ein Wie es hätte sein können mit einem Wie es gerade ist und einem Wie wir uns erinnern, daß es war, ohne daß dies aber einen Widerspruch oder ein kratzbürstiges Nebeneinander ergeben würde. Vielmehr resultiert daraus eine Verschränkung des Realen mit dem Erdachten und Spekulierten – wie bei einem Strickmuster aus Traum und Wirklichkeit (wobei man nicht sagen möchte, was davon konkreter ist).

Es ist so überaus passend, daß der junge Medizinstudent Marco (der, wenn‘s halt gar nicht anders geht, sich auf Augenheilkunde spezialisieren wird), fortgesetzt darüber nachdenkt, wie diese Geschichte in einen Film umzusetzen wäre. Mit sich selbst als Regisseur. Die Fiktion materialisiert sich in imaginierten Filmsequenzen eines zukünftigen Augenheilkundlers. Und so mancher Leser wird angeregt sein, sich vorzustellen, welche berühmten Schauspieler die Figuren dieses Romans verkörpern könnten. Natürlich entsprechend dem Alter der Figuren im Buch. Ich würde mir für Marco (Klischee hin oder her) Marcello Mastroianni aussuchen, für die junge Wienerin Julia mit ihrem schönen Französisch logischerweise Romy Schneider, für die Gouvernante Miss Molly am besten Deborah Kerr und für den jungen Mortimer Gregory Peck beziehungsweise den alten Mortimer Albert Finney (mit Bart). Letzterer lebt sogar noch. Und man kann ja heutzutage aus alten Filmausschnitten neue Dialoge basteln. Wie auch immer, Peter Henisch könnte jedenfalls – siebzig Jahre jung – das Drehbuch zu diesem filmreichen und filmreifen Roman verfassen. Bis dahin aber kann man sein Buch lesen und im Kopf sich seinen eigenen Film drehen.

Mortimer & Miss Molly ist ein Liebesroman und eine im besten Sinne des Wortes leichte Lektüre. Wie etwa eine zauberische Vorspeise einen sättigt, sodaß man gerne auf einen schweren Hauptgang verzichtet. Große Kunst, die einem jegliches Völlegefühl erspart.

Liebe, Leid und Lust

Walter Grünzweig, Album – der Standard

Zu seinem 70. Geburtstag hat Peter Henisch einen komplexen Roman geschrieben, der zunächst wie eine unverfängliche Liebesgeschichte daherkommt. Das österreichisch-italienische Studentenpaar Julia und Marco verschlägt es zufällig nach San Vito, in ein Städtchen in der Toskana, das zum Ort ihrer sich entfaltenden Beziehung wird. Im Hotel treffen sie auf Mortimer, einen korpulenten alten Amerikaner mit Bart – il vecchio Hemingway -, der ihnen bei einem weindurchtränkten Abendessen eine unglaubliche Geschichte erzählt. Er sei im Frühjahr 1944 als junger Soldat bei einem Aufklärungsflug getroffen worden, konnte sich aber mit dem Fallschirm retten. Nach der Landung im Schlosspark von San Vito wurde er von der fast doppelt so alten englischen Gouvernante Miss Molly, die bei einer hochadeligen italienischen Familie arbeitete, versteckt – dies unter großem Risiko, denn San Vito war noch unter deutscher Besatzung.

Mortimer verspricht eine Fortsetzung der Erzählung, reist jedoch unter mysteriösen Umständen ab und überlässt es Julia und Marco, die Geschichte allein weiter- und, wenn möglich, fertigzuerzählen. Der Roman ist in der Hauptsache der Versuch des jungen Paares, sich mithilfe seiner Fantasie in die Geschichte von Mortimer und Molly hineinzufühlen. Im Laufe von fünf, sechs Sommern, die sie immer wieder in San Vito verbringen, versuchen sie, das Ganze in ein Drehbuch für einen möglichen Film zu verarbeiten. Die Rekonstruktion und Interpretation der Geschichte – das ist Henischs gelungener erzählerischer Kunstgriff – ist dabei gleichzeitig auf das Engste verbunden mit Julias und Marcos eigener, wechselvoller Beziehung.

Es beginnt damit, dass San Vito offensichtlich ein Spiritus Loci innewohnt, den sie für ihr sehr intensives Zusammensein brauchen. Treffen anderswo – in Verona, Turin oder Wien – fallen sexuell und touristisch katastrophal aus. Nur im renaissancedurchfluteten San Vito gelingt es ihnen, unter Ausklammerung ihrer sehr verschiedenen Lebenswelten, Herkunft und sozialen Erfahrungen, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Die Beschränkung bzw. Fokussierung auf das alte Städtchen und seine wild-idyllische Umgebung erlaubt ihnen – wie ihrer Vermutung nach auch schon Molly und Mortimer 40 Jahre zuvor – eine außerhalb zivilisatorischer Zwänge liegende Liebesbeziehung zu führen. Es ist vor allem das gemeinsame „Fantasiespiel“ der Erschließung der „Geschichte, die sich mit jedem Schritt, den sie ihr nachgingen, vor ihnen auftat“, das die Beziehung am Leben erhält. Als Marco, inzwischen Augenarzt mit Karrieredrang, die Vermutung aufstellt, dass sie sich die Liebesbeziehung ihrer Vorgänger nur eingebildet haben könnten, wirft Julia ihm vor, ein „Scheißrevisionist“ zu sein: „Du willst unsere Geschichte revidieren.“ Sein Bedenken, dass „die Wirklichkeit nun einmal etwas anders aussieht als die Illusion“, beantwortet sie: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit.“

Es handelt sich aber keineswegs um eskapistische Verweigerung bzw. eine fantasiereiche Flucht vor der Realität. Vielmehr geht es in Henisch‘ scher Manier um die Rettung vor sumpfiger Verbürgerlichung. Die Arbeit an der Geschichte von Mortimer und Molly, gibt dem jungen Paar Freiheit und Spontaneität, und es ist kein Wunder, dass Marco die Arbeit an ihrem Projekt aufgibt, als er glaubt, sich den Zwängen der „Wirklichkeit“ unterwerfen zu müssen. Als er die erotische Beziehung von Mortimer und Molly bezweifelt, bedeutet das für Julia das Aus für die Beziehung. Das letzte Wort ist allerdings nicht gesprochen – der Roman wartet mit einem überraschenden Ende auf.

Die Geschichte von Mortimer und Molly, die hier rekonstruiert wird, ist ganz und gar nicht harmlos. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte im Krieg, mit Bomben, Partisanenerschießungen, verriegelten Sonderzügen aus Rom, die in die Vernichtungslager fahren. Auch Julias und Marcos Zeit weist politische Kontexte auf: Aldo Moros Entführung 1978 durch die Brigate Rosse etwa oder der neofaschistische Terroranschlag 1980 im Bahnhof von Bologna. 1944 ermöglicht die Ausnahmesituation in San Vito paradoxerweise die außergewöhnliche Erotik zwischen einem jungen amerikanischen GI und einer fast doppelt so alten Engländerin, aber es ist eine bedrohte, katastrophenumwehte, krisenhafte Idylle.

Stärker noch als sonst bei Henisch zeigt dieser Roman signifikante intertextuelle Bezüge. Die intensive körperliche Beziehung der kunst- und literaturverliebten Molly mit dem einfachen, aber sie anziehenden GI in einem verlassenen Holzhaus erinnert an D. H. Lawrence‘ Lady Chatterley-Roman, bei dem die Protagonistin den Zwängen ihres Standes zu entkommen sucht. Es finden sich Anklänge an und sogar wortwörtliche Zitate von Hemingway; der Name der Protagonistin Molly stellt eine Hommage an Joyce dar.

Am Schluss des Romans, der mit der totalen Sonnenfinsternis am 11. 8. 1999 zusammenfällt, erkennt man sogar eine Parallele zu Adalbert Stifter, dessen intensive Reaktion auf eine Sonnenfinsternis im Jahr 1842 im Text reflektiert wird. Das Ende der Himmelserscheinung in San Vito ist aber charakteristisch Henisch und gar nicht Stifter. Als die Sonne wieder am Himmel strahlt, sagt Marco: „Siehst du, wir haben sie wieder herbeigevögelt.“ Solche Bezüge sind nicht bloß literarische Spielereien für Wissende, sondern stellen eine Variante der Ästhetisierung mit durchaus politischem Hintergrund dar: Körperlichkeit und Naturerleben werden emanzipiert und wesentlich.

In einer verdinglichten, dem Zweckdenken absolut unterworfenen Welt hat die Zweckfreiheit politische Funktion. Mit seinem neuen Italien-Roman hat Peter Henisch eine intensive und prekäre Liebesgeschichte geschrieben, deren Lektüre Spaß macht und, man möchte es kaum glauben, Hoffnung vermittelt.

Mit dem Fallschirm ins Leben.

Thomas Rothschild, Die Presse

Ein Pilot der US-Army und eine englische Gouvernante treffen 1944 in der Toskana aufeinander: „Mortimer & Miss Molly“. Peter Henisch verschränkt die Geschichte der beiden mit jener von Marco und Julia, die sich 40 Jahre später dort aufhalten. Ein politischer Liebesroman.
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Im Jahr 1944 ist der amerikanische Soldat Mortimer mit einem Fallschirm abgesprungen und im Garten einer kleinen Stadt mit Namen San Vito im Süden der Toskana gelandet. Von ihrem Fenster aus hat Miss Molly ihn dabei beobachtet. 40 Jahre später wohnen Marco und Julia in dem schäbigen Hotel Fantini, von dem aus man in den Garten sieht, in dem Mortimer, unter dem Fenster von Miss Molly, gelandet war.
Wer passt zu mir?

In seinem neuen Roman „Mortimer & Miss Molly“ verknüpft Peter Henisch die beiden Geschichten von Mortimer und Miss Molly und von Marco und Julia, über die Zeiten hinweg und aus einer Perspektive, die das Geschehen der einen wie der anderen Geschichte in die Vergangenheit rückt. Er erzählt sie in einem leichten, einem spielerischen Tonfall, fast wie eine mündliche Rede, die er erfindet, während er spricht. Er korrigiert sich, sucht nach Erinnerungen und Worten. Manchmal verlangsamt er das Tempo, beschreibt eine Szene wie in Zeitlupe. Details erhalten Bedeutung, Genauigkeit wird zum Prinzip.

Peter Henisch erzählt die Geschichte, aber er ist nur zum Teil der Erzähler. Mortimers Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt der alt gewordene Mortimer zunächst selbst. Dramaturgisch geschickt bettet Henisch die Ich-Erzählung in den Rahmen ein, der mehr als bloß Anlass für Mortimers Rückschau ist. Die Andeutungen, die Henisch einstreut, ehe Mortimer nach 50 Seiten mit seiner eigenen Erzählung beginnt, erzeugen erwartungsvolle Spannung, ohne zu viel zu verraten.

Doch Mortimers Erzählung bricht sehr schnell ab. Da seine Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist, muss er buchstäblich über Nacht das Land verlassen. Marco und Julia müssen seine Geschichte, die Geschichte des amerikanischen Piloten und der englischen ehemaligen Gouvernante im Dienst einer italienischen Familie, nun auf eigene Faust recherchieren, und da sie damit nicht weit kommen, imaginieren. Marco, der lieber Filmregisseur als Arzt werden möchte, stellt sich, unterstützt von Julia, einzelne Szenen, Einstellungen, Übergänge vor. Das ist die Fiktion, denn natürlich ist es Peter Henisch, der die Geschichte erfindet. Und dahinter steht die Frage, die Literatur stets implizit stellt: Was ist die Wahrheit? Kommt es überhaupt auf sie an?

Peter Henisch ist, wie so viele, offenkundig in Italien, in die Toskana verliebt, von der Landschaft und dem Lebensgefühl verzaubert, aber selten wurden diese so präzise und zugleich beiläufig, unangestrengt beschrieben. Peter Henisch, den man sich aus irgendeinem Grund als ewigen Jugendlichen denkt, der aber in Wahrheit inzwischen das siebente Jahrzehnt vor sich hat, hatte zwar stets Humor, aber noch nie war er so heiter, schien das Ambiente so sonnendurchleuchtet wie in diesem Roman. Dabei geht es keineswegs nur fröhlich zu. Und selbst in jenen Passagen, deren Inhalt zu Sentimentalität verführen könnte, bleibt Henisch sachlich, nüchtern, fast scheu.

Das kann nicht ganz verhindern, dass sich die Liebesgeschichte zwischen Marco und Julia vorübergehend dem Klischee nähert, etwa so wie Richard Linklaters Film „Before Sunrise“. Das kann man mögen, man kann aber auch bedauern, dass man so lange auf die Fortsetzung der Mortimer-Molly-Handlung warten muss. Einmal sagt der Erzähler von Marcos Super-8-Kamera, dass er sie „während der folgenden Tage noch oft (und manchmal allzu oft) zum Einsatz“ gebracht habe. Diese Versuchung, alles festzuhalten, was es festzuhalten gibt, teilt Henisch mit seinem Helden. Manchmal wäre eine Ellipse für den Erzählfluss von Vorteil.

Im Übrigen verrät nichts das aktuelle Alter des Autors, der in Kürze einen runden Geburtstag feiert. Verdankt sich die Ausführlichkeit vielleicht dem Vergnügen, das ihm die Rückkehr in die (eigene) Jugend, jedenfalls beim Schreiben, bereitet? Der Roman hat acht Teile. Die ersten vier nehmen fast drei Viertel des Umfangs ein, die restlichen vier drängen sich im letzten Viertel. Henisch beschleunigt die Erzählung, rafft die Zeit innerhalb der Marco-Julia-Handlung, als fürchtete er, der Leser könnte die Geduld verlieren. Inzwischen kennt dieser San Vito recht gut. Man kann nicht auf die Dauer in Begeisterung schwelgen, nicht einmal über die Toskana, jedenfalls nicht bei der Lektüre eines Romans.

Freilich wäre Henisch nicht Henisch, wenn er sich in ein Idyll flüchtete, wenn er seinen politischen Verstand, der ihn durch sein gesamtes Werk begleitet hat, plötzlich in den Ruhestand versetzte. Der Wiener Autor, von dem man mit Fug und Recht sagen darf, dass er der österreichische Schriftsteller der Achtundsechziger-Generation par excellence ist, ist sich auch im Alter treu geblieben. Das macht ihn nicht nur sympathisch – es kommt seiner Literatur auch zugute. Sie wirkt in jeder Zeile redlich, authentisch, frei von Spekulation. Der Gedanke an das „Marketing“, das für viele Jüngere zum leitenden Ideal geworden ist, scheint bei Henisch nicht aufzukommen. Er war innerhalb der österreichischen Literatur immer ein wenig Außenseiter, und er ist es geblieben. Man kann ihn keiner Gruppe und keiner Schule zuordnen. Henisch ist immer nur Henisch.

Das Politische kommt manchmal ganz beiläufig daher, nebenbei, und dann umso wuchtiger. An einer Stelle wird ein Bauer erwähnt, ein Busnachbar Mollys: „Ihn haben die Faschisten nicht mehr in den Krieg schicken können, aber seine Söhne. Der eine ist in Afrika gefallen, der zweite ist in Russland erfroren, den dritten, der geglaubt hat, davongekommen zu sein, haben die Deutschenin irgendeines von ihren Lagern deportiert.“ Die Schrecken des Krieges und des Faschismus in einem Satz.

Nach diesem Auftritt verschwindet der Bauer aus dem Roman. Aber auch in diesem Buch thematisiert Henisch die politischen Erfahrungen seiner Generation, in einer Beschreibung etwa des Fests der italienischen kommunistischen Zeitung „Unità“ in San Vito. Würde man eine Liste der im Roman erwähnten Bücher und Filme zusammenstellen, erhielte man ein Leseprofil, das nichtnur auf Henisch, sondern auf viele Achtundsechziger passt.

An einer anderen Stelle steht ein Satz, den man Henisch als Motto zuschreiben könnte: „Dass Liebe vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte.“ Er verbindet das Privateste mit dem Politischen, auch wenn „Widerstand“ im gegebenen Kontext gar nicht auf Politisches zielt. „Mortimer & Miss Molly“ ist ein Liebesroman (wenn man dabei nicht an Marlitt oder Courths-Mahler denkt) und ein politischer Roman in einem. Er ist ein Roman von Peter Henisch.

Spät, sehr spät kommt ein Doktor Tozzi ins Spiel. Er scheint der Geschichte eine ganz neue Richtung zu geben. Aber davon soll nichts verraten werden. Das wäre Spielverderberei.

Philanthropische Erzähler wie Peter Henisch sind rar geworden.

Sebastian Fasthuber, Salzburger Nachrichten

Mit einem Absturz beginnt das neue Buch Peter Henischs. Ein Fallschirmspringer landet in einem wunderschönen Renaissancegarten in einem kleinen toskanischen Ort. Ein idyllisches Bild? Nicht ganz, denn man schreibt das Jahr 1944 und der Mann ist Pilot eines US-Bombers, der abgeschossen worden ist. Liebe in Zeiten des Krieges: Eine Frau beobachtet vom Fenster aus den Fallschirmspringer und versteckt ihn bei sich. Obwohl diese als Gouvernante in Italien hängen gebliebene Engländerin viel älter ist als der Soldat, entwickelt sich etwas zwischen den beiden.

„Mortimer & Miss Molly“ ist keine einfache, sondern eine doppelte und auch noch verzwickte Liebesgeschichte. Denn Henisch verknüpft die Geschichte der beiden mit der eines jungen italienisch-österreichischen Liebespaars: Marco aus Turin und Julia aus Wien urlauben 30 Jahre später in jenem toskanischen Ort und lernen den alt gewordenen Mortimer kennen. Eines Abends beginnt er, von sich und Miss Molly zu erzählen, am nächsten Morgen ist er verschwunden. Die beiden müssen sich ausmalen, wie die Geschichte Mortimers und Miss Mollys weitergegangen sein mag.

All das lässt sich auch als erzählerisches Credo des Autors lesen, als ein Spiel mit den Möglichkeiten und eine Feier des Erzählens. Es gibt heute kaum jemanden sonst, der einen Text derart virtuos aufzubauen versteht wie Peter Henisch agiert im neuen Roman „Mortimer & Miss Molly“ erneut auf der Höhe seiner Kunst. Heute, Dienstag, feiert Peter Henisch seinen 70. Geburtstag. Viel Aufhebens will er nicht darum machen. Nicht dass es ihm unangenehm wäre, „das dreißigste Jahr“, mit dem Ingeborg Bachmann einst das Ende der Jugend ansetzte, merklich überschritten zu haben. Aber ein runder Geburtstag bringt mit sich, den Blick in die Vergangenheit zu richten.

Peter Henisch ist viel zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt, um darin eine Verlockung zu erblicken. Beim Besuch in seiner Wiener Wohnung sieht er die Druckfahnen eines in Kürze erscheinenden Sammelbands mit Artikeln, Essays und Reden durch. Und in Gedanken befindet er sich immer noch in seinem jüngsten Roman „Mortimer & Miss Molly“, der soeben veröffentlicht worden ist.

Über die Jahre ist er wahrscheinlich der beständigste österreichische Autor. Er versteht sein Handwerk als Erzähler und er verfügt über eine treue Leserschaft. Den Erfolg hat der Mann, der sich stets von literarischen Moden fernhielt („Außenseiter aus Passion“ wird erwähnter Essayband auch heißen), aber nie gefeiert. „Macht nichts, sonst wäre ich höchstens satt geworden“, sagt er. „Man muss nur wissen, worauf man sich als Autor einlässt. Mir ist die Bezeichnung freischwebender Schriftsteller lieber als freier Schriftsteller, denn man kann jederzeit abstürzen.“

Suchbild mit Katze

Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau

Katze ist kein Beruf

Traumberuf Katze: Als Peter Henisch begriff, dass er als Katze kein Geld verdienen kann, wurde er Schriftsteller.
Peter Henisch erzählt in seinem neuen Roman von einer Wiener Kindheit und vom Weg zum Schriftstellerleben.

Der österreichische Schriftsteller Peter Henisch dehnt seit jeher den Begriff des Romans, aber der Roman hält das aus. Sein neues Buch, nominiert für den erstmals vergebenen Österreichischen Buchpreis, den dann Friederike Mayröcker gewann, könnte man ohne diese Gattungseinordnung wohl auch „Erinnerungsbilder“ nennen, würde man übrigens auch ganz gerne, wäre bequemer. Wie die Dinge aber liegen, kann Henisch es sich leisten, offen zu lassen, wie viel von ihm selbst in dem Nachkriegswiener Buben steckt, der unter Umständen – Henisch mag sich hier nicht festlegen, muss er auch nicht – ebenfalls Peter heißt. Vielleicht aber auch Paul. Und wie viel von ihm in dem Reisenden steckt, der mal in New Orleans ist, mal in Istanbul, letzteres auf der Rückreise vom Iran, als Tramper, unvorstellbar. „Damals lag noch nicht so viel Angst in der Luft. Was das betrifft, waren das sehr glückliche Zeiten.“ Auf dem Rückweg von Prag wiederum lernt der Reisende Franz Kafka im Zug kennen. Sozusagen.

Auch muss Henisch sich nicht festlegen, wie viel von ihm in einem Erzähler steckt, der einen Roman über einen gewissen Paul Spielmann geschrieben hat. Allerdings kommt in Peter Henischs „Eine sehr kleine Frau“ (2007) ein Mann dieses Namens als Erzähler vor. Der Erzähler in Peter Henischs neuem Buch wird nun von „Frau S.“ darauf angesprochen. Sie glaubt partout nicht, dass er wiederum partout nicht dieser Paul Spielmann sein will. Frau S. denkt, er will sie zum Narren halten. „Wenn so ein Autor ICH schreibt, dann denke ich selbstverständlich, es handelt sich um ihn.“

Frau S. ist zum Verzweifeln, aber auch komisch. Nachher erfreut sie mit einer weiteren Verwechslung. „Und diese Katze hat Murr geheißen?, fragt die Frau S. Nein, sage ich, Murli hat sie geheißen, weil sie so schwarz war. Aber irgendwo hab ich gelesen, dass Sie eine Katze – oder war es ein Kater? – namens Murr gehabt haben. Das war nicht ich, sage ich, das war E. T. A. Hoffmann. Schon wieder nicht Sie!, sagt die Frau S. Sie wollen es nie gewesen sein.“ Da kann man auch wieder denken: Sie hat ja recht, die Frau S.

So besteht Peter Henisch auf der ultimativen Freiheit des Autors und der relativen des Erzählers und macht sich zugleich darüber lustig: Über dieses natürlich bei aller Verwicklung auch einfache Verfahren, das das Mitspielen des Lesers voraussetzt und sich an Frau S.‘ rigoroser Ignoranz die Zähnchen ausbeißt. So dass die Peter Henisch zugewandten Leser respektvoll zur Kenntnis nehmen, dass auch die Erzählerfigur in Henischs jüngstem Roman, „Suchbild mit Katze“, zahlreiche autobiografische Dinge und Details mit dem Wiener Schriftsteller gemeinsam hat, ohne dass Henisch eine Autobiografie geschrieben hätte. Aber es handelt sich in beiden Fällen um den Sohn eines in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg tätigen und namhaften Pressefotografen. Nachher wird er Schriftsteller.

In hingetupften Szenen erinnert sich Peter (Paul) im Roman an die Nachkriegszeit in der geteilten Stadt Wien, eine Kinderliebe, halbverbotene Straßenfreundschaften, das seltsame Leben als Einzelkind, das seltsame Leben als Kind des Jahrgangs 1943.

„Es gibt Wörter, auf die eine eigenartige Betonung gelegt wird. Das Wort Jud zum Beispiel. Oder das Wort Nazi. Liegt es nur an der Betonung, dass mir diese Wörter peinlich vorkommen? Ich mag sie nicht, diese Wörter, aber ich spitze die Ohren, wenn sie fallen.“

Selten vergisst der Erzähler, die Wege der Erinnerung mitzuerzählen: Warum ihm etwas wieder eingefallen ist, wie es ihm gerade jetzt einfällt, wo er etwas schon einmal gesehen, gehört hat. Manchmal, häufig reicht ein Blick auf dem Fenster – so dass neben dem „Kater Murr“ auch „Des Vetters Eckfenster“ seinen Platz bekommt. In der Form bleibt das locker, ist aber weder beliebig noch verplaudert. Die Szenen, die sich dem Erzähler in den Kopf drängen, sind kurz und prägnant. Ihre Zuverlässigkeit ist nicht verbürgt, dafür wiederum sorgt Autor Henisch, der nichts dagegen hat, uns in einer Restunsicherheit zu lassen.

Katzen – neben Murli auch Mimí und Hoffmann (das erzählt der Erzähler gleich Frau S.) – sind im „Suchbild mit Katze“ keineswegs nur Dekor. Der Erzähler bekennt sich nicht nur zur Katze, indem er mit ihr lebt und zwar offenbar über Jahrzehnte, also Katzengenerationen hinweg. Er identifiziert sich auch unorthodox mit ihr: als „Kind, das gerne eine Katze sein wollte. In einem Schulaufsatz nach seinen Plänen für später befragt, schreibt er – nach ausdrücklicher Ermunterung des Lehrers, der weiß, was sein Schüler in Deutsch kann – hin: „Auf die Frage, was ich einmal werden möchte, fällt mir zuallererst die Antwort KATZE ein … Ja. Ich würde gern eine Katze sein.“ Der Lehrer macht nach einem Blick ins Heft des Lieblingsschülers eilig darauf aufmerksam, dass es sich schon um einen Beruf handeln solle, etwas, mit dem sich Geld verdienen lasse. „Nein, Peter, das geht nicht. Katze ist kein Beruf.“

Daraufhin möchte Peter Schriftsteller werden. „Ich möchte etwas erleben und dann darüber schreiben“, schreibt er nun. Ironischerweise orientiert er sich vorerst an Karl May, der bekanntlich wenig erleben musste, um allemal über alles Mögliche zu schreiben. Aber auch Peter Henisch fand dann ja seinen Weg.