Karl-Markus Gauß
Eleganz in der Unauffälligkeit. Zu Peter Henisch
Wie man in Büchern da und dort am Rand etwas notiert, was einem aufgefallen ist und das man sich merken möchte, will ich im Folgenden nicht mehr als ein paar gewissermaßen randseitige Anmerkungen zu Werk und Autor machen.
Erstens. Die Sprache
Peter Henisch ist ein österreichischer Autor, und man merkt das nicht nur an den Schauplätzen, den dargestellten Konflikten, den Biografien seiner Protagonisten, die er mit Ereignissen der österreichischen Geschichte verbindet, sondern gerade auch an seiner Sprache. Seine Sätze sind mit österreichischen Wörtern und Wendungen durchsetzt, die seltener aus dem Dialekt als aus der gehobenen Umgangssprache und zumal aus deren Wiener Sprachschatz kommen. Sie prunken aber nicht, wie das in österreichischer Sprachkunst sonst häufig der Fall ist, mit barocker Fülle oder Völle, sondern ziehen schön musikalisch und melodisch dahin, ohne kapriziös auf sich selbst aufmerksam machen zu wollen, fast möchte ich sagen, ihre Eleganz besteht in ihrer Unauffälligkeit.
Henisch hat sich für eine literarische Sprache in der von ihm trotzig so genannten »Mutterzunge« entschieden, also darauf verzichtet, sich in Vokabular, Satzbau und vielerlei Eigenheiten am deutschen Feuilleton zu orientieren. Er hat, wie es seinem Wesen entspricht, auch darum keine große Geschichte gemacht und jene Kolleginnen und Kollegen nicht gescholten, die sich ihrem deutschen Lektorat, das aus den vermeintlichen Austriazismen bedenkenlos Germanismen zu machen pflegt – übrigens ohne die geringste Ahnung, dass es sich um solche handelt –, nicht gebührend widersetzten. Es erschien ihm nur lächerlich, über ein Wiener Grätzel in der Sprache des Berliner Kiezes zu schreiben; oder Mortimer & Miss Molly, einen Roman, der in Italien spielt, wo Henisch jedes Jahr ein paar Monate in einer toskanischen Kleinstadt lebt, im Jargon der deutschen Toskanafraktion zu erzählen.
Er hat sich in dieser Sache unnachgiebig behauptet, sieht sie im Unterschied zu weniger toleranten Leuten wie zum Beispiel mir aber nicht grimmig, wenn etwa zu konstatieren ist, dass einer jüngeren Generation, die bereits in der digitalen Welt aufgewachsen ist, der Wert des österreichischen Deutsch entweder nicht mehr sonderlich viel gilt oder sie dessen Spezifik gar nicht mehr wahrzunehmen in der Lage ist. Im Beharren auf seiner Sprache ist Henisch übrigens alles andere als ein Sprachnationalist. In seinem jüngsten, wieder in Italien spielenden Roman, Nichts als Himmel, beklagt er – ganz eines Sinnes mit Pier Paolo Pasolini, der geradezu verzweifelt dagegen zu Felde zog – die Verarmung und Vereinheitlichung des Italienischen als Folge der ökonomischen Dominanz der reichen norditalienischen Regionen.
Zweitens. Die Flüsse
Zugegeben, nicht nur die Donau und der Mississippi spielen ihre Rolle in Henischs Werk, sondern auch der Atlantik. In dem köstlichen Roman mit dem heute unkorrekten Titel Vom Wunsch, Indianer zu werden lässt er Karl May und dessen Gattin Klara auf der Überfahrt mit Franz Kafka zusammentreffen, eine wunderwitzige Konstellation, eines jener glücklich entwickelten »Kopfbilder«, wie Henisch sie selber nennt. Es ist jedenfalls nicht der mächtige Donaustrom, sondern der Donaukanal, der durch seine Wiener Romane fließt, ein Gewässer, an dem das Kind mit seinen Papierschiffchen erstmals die Verlockung der Weite und das Erschrecken vor dem Verschwinden in der Weite verspürte, und ein Schauplatz plebejischen Lebens. Der Donaukanal gehört nicht zum »kaisergelben Wien, sondern zum ziegelroten«, wie es einmal heißt, also zum Wien der Peripherie, in dem der Autor aufgewachsen ist und das er literarisch immer wieder erkundet hat.
Der Donaukanal spielt auch in Die kleine Figur meines Vaters seine Rolle, einem Roman, der von der intellektuellen Freiheit des Autors zeugt, den Vater in seinem Opportunismus, aber auch in seinen berechtigten Ängsten, in seiner Angepasstheit, aber auch in seiner Sehnsucht nach dem guten Leben zu charakterisieren, kurz: ihm nicht selbstgefällig den Prozess zu machen, sondern, gerade in der notwendigen Kritik, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
In Nähe und Distanz zu seiner eigenen Biographie hat Henisch in seinen Romanen viele alternative Lebensläufe entworfen und durchgespielt. Und es war am Donaukanal, berichtete er einmal, dass er unverhofft den schwarzen Peter vor Augen hatte und sogleich begann, sich probeweise verschiedene Lebenswege dieses Kindes einer Wiener Straßenbahnschaffnerin und eines amerikanischen Besatzungssoldaten auszudenken. Der »Schwarze Peter« wird auf der Suche nach dem Vater und voller Sehnsucht, einmal nicht zu den Gezeichneten, den Anderen zu gehören, nach New Orleans gehen und den Mississippi finden. Den Mississippi konnte man, wie die Donau, mit der Fähre überqueren, und zu einer Fähre gehört ein Fährmann. Und schon ist man einerseits beim antiken Mythos und andrerseits beim Blues, bei Charon, der die Toten über den Acheron bringt, und bei der Musik, die von Leid und Widerstand derer, die überleben wollen, kündet. Henisch, ich brauche es nicht auszuführen, ist bekanntlich auch Musiker, Sänger und hat mehrere CDs mit Wiener Liedern und eine mit dem Blues vom Schwarzen Peter, dem Wiener Kind mit dem unbekannten amerikanischen Vater aus Afrika, aufgenommen.
Also: Henisch hegt eine Vorliebe für fließende Gewässer, ich nehme das gerne als Indiz, dass er es eben mag, wenn die Dinge in Bewegung sind, und er etwas gegen politischen Stillstand und sozialen Immobilismus hat.
Drittens. Die Treue
Wenn Henisch einmal über eine Figur und ihre Orte, ihre besondere Haltung zum Leben und in der sozialen Welt geschrieben hat, ist die Sache für ihn damit nicht ein für
allemal abgetan. Er kehrt gerne zu seinen Figuren und in deren familiäres Umfeld zurück, untersucht, wie sie sich entwickelt haben, probiert ihnen andere Berufe an, zeigt sie in neuer Umgebung. Einzelne Bücher hat er für neue Auflagen überarbeitet, mit Fotografien ausgestattet oder erweitert. Etwa die Geschichten Vom Baronkarl, in denen er dem Leben und den Legenden eines Wiener Originals aus der Gegend um den Laaer Berg nachgeht und dabei fast so etwas wie eine soziale und topographische Archäologie betreibt.
Denn Henisch wendet sich häufig dem zu, das gerade verschwindet, verschwunden ist, was sowohl für bestimmte Charaktere oder soziale Verhaltensweisen, als auch für die Landschaften und Stadtschaften gilt. Ich möchte hier anregen, dass einmal eine Studie das Wort »Gegend« im Werk von Peter Henisch untersuche. Die Gegend seiner Jugend, das waren Gstätten und Brachen, aber auch Siedlungen und Straßenzüge, die heute in der Stadt nicht mehr aufzufinden sind, aber Gegend, er bezeichnet es häufig so, konnte auch Wiesen, Hänge, Wäldchen, eine Natur bedeuten, die in der Gefahr steht, verbaut zu werden.
Gleich dreimal hat Henisch Die kleine Figur meines Vaters überarbeitet, ein erstaunliches Zeichen der Treue, die er gegenüber seinen Gestalten und ihrer Welt hegt, und ebenso ein Zeichen für die selbstkritische Aufmerksamkeit, mit der er sich seinem eigenen Werk zuwendet. Als vor zwanzig Jahren, zum sechzigsten Geburtstag des heutigen Achtzigers eine dritte, wiederum neu bearbeitete Ausgabe von Die kleine Figur meines Vaters erschien, hat Erich Hackl das in ein köstliches wie drastisches Bild gefasst. Er meinte, dass sich die allermeisten Autoren der Gegenwart geradezu peinlich hüteten, die Arbeit an publizierten Werken noch einmal aufzugreifen, »als handelte es sich beim Schreiben um einen der Nahrungsaufnahme verwandten Vorgang und bei den Büchern um Fäkalien, die man per Drucklegung für immer runterspült«.
Viertens. Das Leichte
In einer hymnischen Besprechung von Die schwangere Madonna ist Henisch 2005 die »Leichtigkeit raffinierter Prosa« beschieden und, wörtlich, »für das Geschenk höheren Humors« gedankt worden. Die Leichtigkeit, die raffinierte Komposition, der höhere Humor: So hat der unvergessene Ulrich Weinzierl die Prosakunst des Autors charakterisiert. Und tatsächlich, nebst einigem anderen sind es diese drei Dinge, die Henischs Erzählen auszeichnen. Vom Leichten, wie mit leichter Hand Verfassten wissen wir, dass es sich meist als Ergebnis eines künstlerischen Bemühens einstellt, dem man die Mühe nicht mehr anmerkt. Henisch weiß das Leben seiner Protagonisten kompositorisch wie nebenhin auf den Gang der Geschichte zu beziehen und historische Ereignisse oder gesellschaftliche Entwicklungen im privaten Leben seiner Figuren zu spiegeln. Worauf er aber klug verzichtet: das Individuelle deterministisch aus dem Allgemeinen abzuleiten und für jedes epochale Ereignis eine illustrative Wende im persönlichen Leben des Einzelnen zu suchen. Er weiß, dass sich die große Politik verheerend auf das Leben der so genannten kleinen Leute auswirken kann, aber er weiß auch – was gedanklich weniger leicht zu erfassen und literarisch schwieriger zu gestalten ist –, dass es umgekehrt gleichwohl diese Menschen sind, die mit ihrem Tun und Unterlassen ihre Geschichte auch selbst erschaffen. Den Grundfehler vieler historischer und politischer Romane, das Individuum im ständigen Gleichschritt mit der Geschichte zu deren Wendepunkten marschieren zu lassen, hat er nie gemacht. Und es ist auch die kompositorische Raffinesse, die seine Romane frei von solch mechanischen Konstruktionen hält.
Im Schelmenroman Pepi Prohaska Prophet, der im Herbst 1950 beginnt, als Pepi in die Volksschule kommt, und in jenem September 1983 endet, da der polnische Papst in Wien auftritt und der Titelheld verschwindet, hat Henisch diesem eine Figur zur Seite gestellt, aus deren Perspektive Pepis Leben und drei Jahrzehnte österreichischer Geschichte erzählt werden. Im Lebenslauf des Propheten spiegelt sich die Jugendrevolte der sechziger und siebziger Jahre, mit dem Spaß der Happenings und der Verengung auf sektiererische Kaderdisziplin, mit dem Wechsel der Idole und der Plakate von Che Guevara zu Bhagwan, mit der Revolte, sexueller Libertinage und all dem esoterischen Schmus. Der strahlende Held, in dem auch ein Hochstapler und Prediger krauser Welterlösung steckt, wird uns von einem liebenden und gekränkten, eifersüchtig um seinen Status besorgten Bewunderer nähergebracht. Was wir vom Guru und von den Idealen und Illusionen seiner Adepten erfahren, ist also aus der Perspektive dieses Vertrauten erzählt, dem nicht rundweg zu glauben ist. Walter Grünzweig hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, dass dieses Verhältnis zwischen Helden und Erzähler – zweier Kinder der fünfziger Jahre und der Wiener Vorstadt – parodistisch an die prekäre Beziehung zwischen dem genialen Tonsetzer Adrian Leverkühn und seinem Jugendfreund Serenus Zeitblom in Thomas Manns Doktor Faustus erinnert. Beide Male ist es die raffinierte Perspektivierung des Erzählens, die das heroische, pathetische oder tragische Geschehen ironisch bricht und es damit vieldeutig macht.
Die Kunst höheren Humors, um auf Ulrich Weinzierls Formulierung zurückzukommen, hat es schwer. Wer sich den Ruf eines Humoristen zugezogen hat, ist verdächtig, entweder allzu versöhnlich über die Schwächen der Menschen und die Zumutungen der Politik hinwegzusehen, also harmlos zu sein – oder es plump und platt zu geben und auf die Einfältigkeit seiner Zuhörer oder Leserinnen zu setzen. Da nutzt es nichts, dass Thomas Mann oder Franz Kafka zweifellos auch große Humoristen waren und die Weltliteratur herrliche humoristische Romane zu bieten hat. Allenfalls wenn man dem Humor die nähere Kennzeichnung »abgründig« hinzufügt, ist es genehmigt einzugestehen, dass man bei der Lektüre mitunter lachen konnte. Humor, Ironie, Witz – Henisch steht da eine Palette mit vielen Farbnuancen zur Verfügung. Das reicht von slapstickartigen Passagen – im Roman etwa über die Überfahrt des Ehepaars May und Franz Kafkas – über das grundironische Raffinement in der erzählerischen Anlage seiner Romane bis hin zu sarkastischem Witz. Als solcher ist etwa schon der Titel eines Romans zu lesen, Steins Paranoia, verrät er doch, dass das Wiederaufflammen des Antisemitismus in den achtziger Jahren weithin nicht als abstoßend reale Sache verstanden, kritisiert, bekämpft, sondern als Paranoia einiger Verrückter abgetan wurde, die selbst in harmlosen Unterhaltungen zwangsweise die Fratze des Antisemitismus entdecken müssen.
Fünftens. Das Werk
Seit fünf Jahrzehnten veröffentlicht Peter Henisch Romane, Erzählungen, Essays, Gedichte, die sich nicht einfach zu einer beliebigen Reihe von Büchern, sondern zu dem fügen, was man früher ›ein Werk‹ genannt hat. Ein Werk besteht nicht aus der summarischen Anzahl einzelner Veröffentlichungen, sondern entfaltet sich durch deren inneren Zusammenhang und in der Treue zu bestimmten Themen und Motiven, die – vor dem Hintergrund sich verändernder Verhältnisse – von Buch zu Buch anders gedeutet, neu abgehandelt, aber doch immer wieder aufgegriffen werden. Als Chronist weiß Henisch, dass zur Wirklichkeit der Menschen mehr gehört als bloß die Realität der Fakten, nämlich auch ihre Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben, die Träume, aus denen nichts wurde, die Ideale, die sich fast unbemerkt verflüchtigt haben. Henisch ist gerade, was das weite Feld der Niederlagen betrifft, ein präziser Landvermesser, aber keiner, der sich mit dem schlechten Verlauf der Dinge bitter zufriedengäbe. In Eine sehr kleine Frau entwirft er etwa das eindringliche Lebensbildnis einer Frau, mit der es die Zeit und die Menschen nicht gut meinten und die sich nie gemäß ihren Begabungen entfalten konnte. Aber der Roman zeigt auch, dass diese kleine Frau, in der Henisch seine Großmutter porträtiert, zwar ihre Träume nicht verwirklichen konnte, sich diese jedoch niemals hat austreiben lassen. Dass auch sie einen Anspruch auf Glück hat, das weiß sie und das hat sie, die Fügsame, auf ihre Weise renitent werden und bleiben lassen. Und auch Peter Henisch selbst hat sich sein schriftstellerisches Leben lang eine Gewissheit zu bewahren vermocht: Bis hin zu seinem beschwingten und humorvollen Jahrhundertroman von 2021 hat er auf einem Trotzdem beharrt, einem Trotzdem, das nichts mit Optimismus oder Zuversicht zu tun hat, sondern mit dem Wissen, dass es, ja, dass es ein wahres Leben im falschen geben kann und es nicht zu rechtfertigen ist, dieses abzuwerten.
Aus Der Hammer, Die Zeitung der Alten Schmiede, Nr. 130, 4.24
Johanna Öttl, Gespräch
»Passion ist nicht nur ein Hobby, sondern auch ein Leiden«
Peter Henisch im Gespräch über Nichts als Himmel (2023)
Von deinem frühen Roman Die kleine Figur meines Vaters bis zu deinem aktuellen Buch Nichts als Himmel spannt sich ein literarischer Bogen, in dem auch Fotografie wiederholt ins Werk gesetzt wird. War es in den 1970ern die Kriegsfotografie, sind es jetzt zwei Aspekte von Fotografie: einerseits politisch-medial verwendete Fotos; andererseits Fotografie als spezifischer Wahrnehmungsmodus. Der Protagonist Paul fotografiert selbst und legt dabei Wert auf eine genaue Wahrnehmung seiner unmittelbaren Umwelt, auf einen geduldigen Blick auf Gegenstände, den Himmel, Vögel. Im Roman werden aber auch Fotos erwähnt, die eine politische Dimension haben – nicht Pauls eigene Fotos, sondern Fotos, die in den Zeitungen erscheinen, etwa ein Foto von übers Mittelmeer geflüchteten Menschen, zusammengedrängt in einem viel zu kleinen Boot, die erschöpft und durchnässt an der italienischen Küste landen. Fotografie begleitet dich in deinem Romanwerk schon einige Zeit und das auf vielschichtige Weise. Was bedeuten diese diversen Arten von Fotografie für dich?
Die Fotos, die wir in letzter Zeit immer häufiger geliefert bekommen, also Fotos von menschlicher Not, von Flucht und Krieg, sind natürlich erschreckend und beunruhigend. Das Foto, das ich im Roman evoziere, eben das Foto, das du soeben erwähnt hast, ist ein sehr bewusst gewähltes Beispiel. Die Hände der Menschen, die um Hilfe bitten, ganz groß im Vordergrund. Sie bitten nicht verbal um Hilfe, sondern mit ihrer ganzen Existenz. Das sind Fotos, die einem nicht so ohne weiteres aus dem Kopf gehen. Auch wenn man, wie Paul, dann rasch weiterblättert, bis zu den Sportnachrichten und zum Wetterbericht. Sicher, es gibt gestellte Fotos – als Sohn eines Kriegsfotografen hab ich einen Blick dafür – und digital ist das Lügen viel leichter als analog, aber das nur nebenbei. Das Foto, das mein Protagonist Paul in der Zeitung sieht, la Repubblica warʼs, ist wahr, und die Hilfe, die auf solchen Fotos von den Migranten erbeten wird, ist existenziell. Im Roman taucht dann mit dem Migranten, der über Pauls Dach kommt, eine Figur auf, die zwar auch um Hilfe bittet – »Give me shelter«, sagt Abdallah. Aber der bittet nicht nur, der hat auch eine Pistole dabei, der fordert. Noch ein Wort zum Foto aus la Repubblica: Wer angesichts solcher Bilder behauptet, dass die Menschen, die man da sieht, nichts als Asyltouristen sind, der soll für diese Gemeinheit in der Hölle braten.
Nichts als Himmel spielt in Italien – Italien ist ein wichtiger Referenzpunkt in vielen deiner Romane. Nun kommt aber der Aspekt der italienischen Asylpolitik dazu, des ›Schutzes der europäischen Außengrenzen‹. Dieser realpolitischen Dimension stehen idyllisierende Italienbilder gegenüber und beide lässt du in Nichts als Himmel anklingen. Wie hast du dich beim Schreiben zwischen diesen zwei Polen von Italienbildern bewegt?
Erstens bewegt sich in dieser Geschichte Paul, und ich bin ebenso wenig mit Paul zu verwechseln, wie San Vito, der zentrale Ort der Handlung, mit San Quirico zu verwechseln ist, das vielleicht manche Leserinnen und Leser kennen. Eine Geschichte ist die Bewegung einer Figur in Raum und Zeit, habe ich einmal in einem Literaturworkshop gesagt, in diesem Buch bewegt sich Paul also in San Vito, das heißt, ich bewege Paul, er ist sozusagen meine Spielfigur, aber auch so etwas wie mein Stuntman. Paul kommt nach San Vito, etliche Jahre oder Jahrzehnte nachdem die aus Mortimer & Miss Molly bekannten Figuren Julia und Marco sich in diesen Ort verliebt haben. Von denen hat er eine romantische Vorstellung von San Vito mitbekommen. Als er jedoch dort ankommt, entspricht das gegenwärtige San Vito dieser romantischen Vorstellung nicht oder kaum mehr. Damit muss sich Paul nun auseinandersetzen. Er sitzt auf der Terrasse, er schaut in den Renaissancegarten und in die Ferne, aber er geht auch im Ort herum. Er lernt Leute kennen, er hört sich ihre Geschichten an, da kriegt er schon einiges mit von dem Unbehagen, das in der Luft liegt, in einer Zeit, von der man sich überrollt fühlt. Aber es geht nicht nur um lokale Zustände. In Mortimer & Miss Molly, dem Roman, in dem Marco und Julia in San Vito ankommen, ist Italien noch ein Land linker Illusionen. Seither hat sich die Stimmung um hundertachtzig Grad gedreht. Noch sind die Rechten nicht ganz an der Macht, aber der Zeitgeist wendet sich ihnen zu. Die Migrationsfrage spielt überall eine Rolle, aber hier ganz besonders. Der Lega-Chef Salvini, der ja in der Szene, in der Paul in der Zeitung blättert, zitiert wird, sagt, dass die anderen europäischen Länder viel reden, aber nicht im Traum daran denken, Italien mit seiner Migrationsproblematik zu helfen. Dieser Salvini ist meines Erachtens ein verachtenswerter Mensch, ein Politiker, der vor allem hetzt, aber mit diesem Urteil über die Heuchelei der anderen europäischen Länder hat er leider Recht. In den transalpinen Ländern, also bei uns, gab es und gibt es Obergescheite, die sagen –– »die Italiener machen ihre Hausaufgaben nicht«. Wenn ich das Wort ›Hausaufgaben‹ schon höre! Da spielt ein altes, von je her unangebrachtes Überlegenheitsgefühl des Nordens gegenüber dem Süden eine Rolle. Mit welchem Recht fühlen sich diese Herrschaften als Schulmeister der Italiener? Von dieser Idee war das nord- und mitteleuropäische Italienbild, bei aller Liebe, immer schon ein bisschen angekränkelt. Die Italiener, so das diesbezügliche Klischee, sind ja nette Leute, aber im Grunde genommen nicht auf der Höhe, auf der wir uns fühlen. Und jetzt spitzt sich die asylpolitische Lage zu, nicht nur in Italien, aber Italien ist aufgrund seiner geografischen Lage ein Land, in dem man diese Entwicklung besonders deutlich mitbekommt. Wenn man die Augen aufmacht und die Ohren nicht zustopft. Aber klar, man kann das auch ignorieren und im Mittelmeer plantschen und die Leute daneben ersaufen lassen.
Bei der Lektüre von Nichts als Himmel schien mir, dass du auch etwas Nostalgie in den Roman setzt. Bezogen jedoch auf das Private – etwa Liebesbeziehungen – nicht etwa auch auf gesellschaftliche oder politische Entwicklungen?
Früher war alles anders, klar. Man bedauert, dass es sich sosehr verändert hat. Um das zu empfinden, muss ich allerdings nicht nach Italien fahren. Zum Beispiel komme ich nach Dürnstein und denke mir: So schön war’s da früher und jetzt kann man sich überhaupt nicht mehr rühren vor lauter Touristen. Die natürlich das Recht darauf haben, dort herumzuwimmeln und sich an der Schönheit des Orts zu erfreuen wie wir auch. Aber damit ist leider der Genius Loci weg. Das ist der Grund für eine Nostalgie, die wahrscheinlich alle Menschen jenseits der Fünfzig empfinden. Weil sie schon eine andere Welt erlebt haben, die ihnen im Rückblick schöner erscheint. Außerdem haben sie eine Welt erlebt, in der man halbwegs optimistisch vorwärtsschauen konnte. »Wir sind jung, die Welt ist offen« – altes Sozialistenlied – oder heißt es, die Welt steht offen? Jedenfalls ein schönes Lied mit einem schönen Text: »Bruder, lass den Kopf nicht hängen, kannst ja nicht die Sterne sehen.« Jetzt weiß man oft nicht mehr, ob das da oben Sterne sind oder Satelliten.
Nostalgie ist auch etwas, das man politisch instrumentalisieren kann. Mit einer Denkfigur, die du angedeutet hast, nämlich: »Früher war alles besser.« In Nichts als Himmel gerät Paul zufällig in eine Vorwahlveranstaltung von Giorgia Meloni. Welche Rolle spielt Nostalgie im politischen Feld?
»Früher war es alles besser«, das sagen tatsächlich alle, ob das Frau Meloni ist oder Herr Kickl. Es hat sich also seit damals etwas derart verändert, dass wir uns in dieser Welt nun nicht mehr daheim, beinahe schon fremd fühlen. Und das stimmt ja. Aber die Rezepte, die die beiden gegen dieses Befremden haben, sind brandgefährlich. Weil sie alte, letzten Endes rassistische Vorurteile perpetuieren, weil sie, was da an Sympathien für den Faschismus oder Nationalsozialismus immer noch unter der Asche der Vergangenheit glost, aufs Neue anfachen, weil sie zündeln. Dabei sieht man das der Signora Meloni nicht gleich an. Sie macht ja auch bella figura in der internationalen Politikszene. Sie ist doch eine sympathische Person, nicht wahr, einigermaßen hübsch, charmant, ihr italienischer Mutterwitz kommt gut an. Die Herren und Damen, die Europapolitik und Weltwirtschaft machen, lassen sich gern mit ihr fotografieren, Hauptsache, sie gibt sich prowestlich, was sie aus Italien macht, ist sekundär.
Zwar ist es schwierig, gegen die Veränderung richtige Rezepte zu finden, doch nennst du auch ein fast utopisches Rezept im Umgang damit, nämlich das Experiment in Riace.
Ja. Im süditalienischen Riace gab es einen Bürgermeister, der sein halbverlassenes Dorf Flüchtlingen zur Verfügung gestellt und versucht hat, mit ihnen eine Art Kooperative aufzubauen. Ein gutes Werk, das auch lang als solches gesehen wurde. Zumindest am Anfang, als die sogenannte Willkommenskultur noch geblüht hat. Da wurden die Vorgänge in Riace mit viel Interesse und Sympathie beobachtet. Presseleute, Filmleute et cetera aus ganz Europa sind gekommen um zu schauen, zu dokumentieren, um zu fotografieren, um Interviews zu machen. Das wäre ja ein nachahmenswertes Modell gewesen. Migranten aus vielen verschiedenen Ländern haben reaktiviert, was zu reaktivieren war – die verfallenen Häuser, die brachliegenden Felder – und konnten dafür in Riace leben und wohnen. Sie hatten vielleicht sogar eine Zukunft in Riace. Aber wie hat das geendet? Das Experiment wurde gestoppt, die Leute wurden in Flüchtlingslager verfrachtet und der Bürgermeister, Domenico Lucano heißt er, wurde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt.1 Weil man ihm Korruption zugunsten der Migranten vorgeworfen hat, die Begünstigung von Scheinehen und weiß der Teufel was noch alles. Den tauchen wir ein, haben manche wahrscheinlich schon länger gedacht.
An so einem Gutmenschen werden wir ein Exempel statuieren. Diese ganze Geschichte ist eine unglaubliche Tragödie. Auch weil man an diesem Beispiel mitbekommt, wie sich die öffentliche Meinung nach dem Wind dreht. Es ist übrigens bezeichnend, wie wenig diese Geschichte bei uns in Österreich wahrgenommen wurde. Unsere Medien haben, soviel ich weiß, nichts oder fast nichts darüber berichtet.
In Arbeiten über dein Werk wird oft dein Interesse an Außenseiterfiguren genannt und du selber hast dich einmal als »Außenseiter aus Passion« bezeichnet. Was genau ist ein Außenseiter, was ist interessant daran?
Ich hab mich schon als Kind in dieser Außenseiterrolle gesehen. Von der Schulzeit an. Ja, das ist vielleicht eine Interpretation, die aus einer Not eine Tugend macht. Aus dem Gefühl heraus, nicht wirklich integriert zu sein. Du gehörst nicht ganz dazu, aber du willst auch gar nicht ganz dazugehören. ›Außenseiter aus Passion‹. Passion ist nicht nur ein Hobby, sondern auch ein Leiden. Also die Bezeichnung ›Außenseiter aus Passion‹ kann man auch so verstehen. Aber welchen Rat gibt Nietzsche? Man soll aus seinen Leidenschaften Freudenschaften machen.
Vielen Dank, Peter Henisch, für das Gespräch.
Das Gespräch fand am 27. September 2023 in der Alten Schmiede im Rahmen der Buchpräsentation von Nichts als Himmel statt. Das Gespräch führte Johanna Öttl (Alte Schmiede).
Das gute Ende und die gute Politik im Werk Peter Henischs
Egon Christian Leitner
Henischs Reserve-Jesus und Vielleicht-Messias (Jesus heißt ja bekanntlich, dass Gott da ist, hilft, schützt, rettet) ist ein russischer Migrant, ein dem Gesamtsystem der zerfallenden UdSSR entkommener Flüchtling eben mit Zwischenstation Österreich und Gebissproblem, und zwar offenkundigem, zumal der eventuelle Heiland gerne auflacht. Lächelt. Jedoch durch die freie Welt irrt per Flugzeug und per pedes und dabei, weil der Not, der Qualen, Bedrohungen und Dringlichkeiten gewahr, Protestbriefe an die diversen de facto zur Apokalypse bereiten Machthaber verschickt. Gerettet wird der potenzielle Erlöser der Menschheit am Ende von einer Frau. Liebenden. Jedenfalls findet sie ihn wieder und wird es vermutlich weiter mit ihm versuchen. Ihm das Leben retten und dadurch die Welt. Die Menschen somit vor der schmerzreichen Auslöschung bewahren. Sehr geehrte Damen und Herren Henischkenner*innen, und auch Sie, lieber, hochverehrter Peter Henisch, werden sich, fürchte ich, über meine unzulängliche Wiedergabe und Darstellungsweise all der lebhaften, witzigen, geistreichen, anmutigen, zarten und überraschenden Geschehnisse im Verirrten Messias ärgern als entsetzlich falsche, Pointen verkennende, Pointen zerstörende Simplifikation meinerseits und des Weiteren, dass ich Ihnen, geschätzte Damen und Herren, eines der vielen typischen open ends in Henischs Gesamtlebenswerk als Happy End verkaufen wolle. Sie haben recht. I aba a. Ein bisserl. Außerdem, mit Verlaub, in einer, wie man so sagt, offenen Gesellschaft, Popperschen, also z. B. in der EU und in den USA, ist ein offenes Ende ein gutes und glückliches Ende. Nämlich ausreichend jeweils hier und jetzt und ausbaufähig und das Gegenteil von Unabänderlichkeit und von Verhängnis. Hiermit bin ich, rate und wette ich, der kreativen, schriftstellerischen Methode Henischs politisch auf der Spur, der ja bekanntlich mit seinem Vaterbuch eines der Grundwerke unserer Zweiten Republik, somit der hiesigen offenen Gesellschaft, geschaffen hat. Nun mag zwar Karl Poppers antilinkes Œuvre im Gegensatz zu Ernst Blochs Prinzip Hoffnung in Henischs Bibliothek vielleicht gar nicht anzutreffen sein, und ganz gewiss war Popper striktester, sturer und schroffer Gegner jeglichen utopischen Denkens und jeglicher realutopischer Handlungsversuche, und vermutlich werden Sie, werte Damen und Herren, meiner Interpretiererei daher einmal mehr einen eklatanten Mangel an Werkimmanenz vorwerfen, nur, mit Verlaub, ich bleibe dabei und setze in den kommenden paar Minuten unter Garantie noch des Öfteren eins drauf, just auch beim bald Popper‘schen, bald Henisch‘schen Verständnis von Sprache, Phantasie und Kreativität.
Die linke Romantikerin Bettine von Arnim andererseits und zuvor ist vielleicht auch nicht zugegen in Henischs Bibliothek. Dennoch, mit Verlaub, erkläre ich mir die weiblichen Wesen bei ihm mithilfe der Arnim. Die sind wie die, kommt mir vor. Laufen auf die Arnim hinaus. Mitunter ja wurde Henisch en passant vorgehalten, die Frauen in seinen Büchern seien oft eher schablonenartig schwach. Seine Männer, selbst die Außenseiter, hingegen stark. Prinzipiell allerdings ist mir jede Unterscheidung respektive Präferenz von „Stark“ versus „Schwach“ ein Gräuel und halte ich es mit dem Spruch, geliebt werde man nur, wenn man Schwäche zeigen könne, ohne Stärke zu provozieren. Der linke Urheber genannter berühmter Sentenz findet sich übrigens sehr wohl in Henischs Bibliothek. Und für den instinktiven Henisch hat, nachlesbar, jede Stark-Schwach-Distinktion etwas von Grund auf Faschistoides an sich. Z. B. sogar der nette, beliebte, erfolgreiche österreichische Fußballspieler, der auf die Frage, wen er wähle, Ich wähle immer die Stärkeren antwortet oder eben Ich wähle immer den Stärksten. Wie auch immer, die Frauen in Henischs Büchern scheinen mir so beschaffen zu sein, dass ohne sie keinerlei Happy End möglich ist. Kein Halt, kein Bergen, kein Entrinnen, kein Überleben, kein Weiterleben. Das gilt für die Etruskologin in Henischs jüngstem Buch genauso wie für die beiden befreundeten jungen Frauen im Jahrhundertroman oder für die auf ihre Weise renitente Schülerin Kirsch im Bali-Lehrerroman und so weiter und so fort bis zurück in die deklariert familienautobiographischen Schriften zur Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit. So undifferenziert und simplifizierend also sehe ich das Geschlechterverhältnis. Und Mortimers Miss Molly, die toskanische Liebesgeschichte der beiden, ist bekanntlich eine von Henischs freien und anverwandelnden Assoziationen unter anderem zu Lawrences großteils in der Toskana geschriebener Lady Chatterly. Von Lord Chatterly heißt es laut Henisch bei Lawrence, dass dieser, Lord Chatterly eben, wie zerstückelt aus dem Weltkrieg zurückgekommen sei. In Stücken: He came home in pieces. Peace Friede, pieces zerfetzt und zerstückelt. Und die Chatterly ist ihm Halt und Hilfe, trotz allem und stets. Und der sexuelle Wildhüter wiederum und die sexuelle Chatterly sind eben irgendwie irgendwo wie Mortimer und Molly. Henisch meint übrigens, wenn ich mich richtig erinnere, dass der ewige Skandal und das Politikum des Chatterly-Buches nicht wirklich im Sexuellen bestand, sondern im Aufheben der Klassenunterschiede. Und dass Krieg impotent macht. Entmachtet. Die Oberen. Sei es, wie es sei und war, ohne Molly wäre der mit dem Fallschirm abgesprungene Mortimer wohl verloren. Und der Messias samt Welt wäre, wie gesagt, verloren ohne seine Freundin. Die Tochter eines Holocaustüberlebenden ist die.
Gestatten Sie mir jetzo bitte den angekündigten Exkurs zur romantischen Bettina von Arnim, geborene Brentano: Dieses Buch gehört dem König, hat sie getitelt, weil geglaubt, der gute König kenne Wirklichkeit und Wahrheit nicht. Dem war aber nicht so, der wusste sehr wohl, was los ist. Der König ließ dann auch einen Verbrecher, Terroristen, hinrichten, der versucht hatte, ihn zu ermorden. Bettine von Arnim hingegen meinte, der Terrorist sei keiner und auch weder verrückt noch ein Verbrecher und der König solle doch mit ihm von Mensch zu Mensch reden. Aber der König hat stattdessen geweint und den Attentäter köpfen lassen. Einen Bürgermeister einer der Städte des Reiches. Der König war freilich insofern gnädig und vielleicht auf die Arnim hörend, als besagtes Köpfen anstatt zu rädern ein Gnadenakt war. Die Regierung des Königs hat dann, vielleicht auch in Reaktion auf die Arnim, ein gelehrtes Preisausschreiben ins Leben gerufen mit der Frage, ob die Klage über die zunehmende Armut begründet sei und was die Ursachen und Kennzeichen der Verarmung seien und durch welche Mittel der Armut entgegengesteuert werden könne. Ein zweites Machthaberbuch hat Frau von Arnim noch verfasst, und zwar eines über den Geist des Islam. An den großmütigen Kaiser der Osmanen ging das. Durch dieses Werk, welches gewissermaßen ein langer offener Brief war, hat die Arnim einer Berliner türkischen Familie helfen wollen und das auch zustande gebracht. Die Arnim soll in ihrem Leben stets stolz und selbstlos gewesen sein. Sie selber eben irgendwie. Zwischen dem König und dem Volk hat sie Vertrauen schaffen wollen durch ihr Werk. Der war jedoch und blieb ein sehr dummer König. Wenn ihr im Übrigen ein Mann ungebührlich nahe kam, hat sie dem die Rippen eingetreten. Sie wurde sehr verehrt und sehr geliebt. Natürlich immer von Männern mit Namen und von Welt. Beeindruckt hat dergleichen die erwachsene Arnim nie. Angeblich hat sie sich heimlich z. B. mit Karl Marx getroffen und, ich glaube, z. B. Alexander von Humboldt hat sie eine Rippe gebrochen. Dieser wiederum und apropos war als Diplomat dafür verantwortlich, dass Marx Kontinentaleuropa verlassen musste. Dass sie durch ihre Recherchen für ihr Armenbuchvorhaben den Weberaufstand ausgelöst habe, ist ihr von Seiten des Hofes auch vorgeworfen worden. Gefährlich. Sie hat sich, so viel steht fest, mittels ihrer angesehenen gesellschaftlichen Stellung permanent und entschieden für andere Menschen eingesetzt, für die wegen angeblichen Verfassungsbruchs des universitären Amtes enthobenen Märchen-Brüder Grimm genauso wie für die Berliner Cholera-Opfer und für die Bewohner*innen der Berliner Elendsviertel. In etwa also solcher Art scheinen mir Henischs Frauengestalten: Unabhängig von ihrer jeweiligen sozialen Position und Klassierung tun die ganz selbstverständlich, was ihnen irgend möglich ist. Ohne die geht gar nichts bei Henisch. Alltagspolitisch, zivilcouragiert, zwischenmenschlich und überhaupt. Kommt mir halt vor. Und, mit Verlaub, Henischs Figuren können, scheint mir, allesamt ihre Schwäche zeigen. Die werden geliebt.
Vor ein paar Wochen hat Henisch am Telefon zu mir gesagt, dass er früher immer gern in Schulen gelesen und mit den Schülern und Schülerinnen geredet hat und dass die seines Empfindens und Wahrnehmens nicht so seien, wie oft von ihnen gesagt wurde. Z. B. Stichwort Pisatest. Aufgeweckt seien die vielmehr in Wahrheit und sehr wohl an fast allem interessiert. Wenn er doch Lehrer geworden wäre und jetzt heute in dieser Zeit einer wäre, ob und wie würde er prüfen, habe ich ihn dann gefragt. Frei assoziieren, hat Henisch geantwortet, würde er die Kinder und jungen Leute lassen. Das mögen die sicher. Und Prüfung wäre das keine wie üblich. Sondern sich, wenn man mag, was einfallen lassen. Miteinander. Und so viel und so lange, wie man will und grad braucht. Sozusagen musische Noten würden die jungen Leut’ also von Henisch bekommen fürs Improvisieren und als Schulnotenzeugnis, folgere ich daraus. Und das da hier heute bei Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, sei garantiert keine Prüfung, hat er mir jedenfalls auch gesagt. Und deshalb habe ich mich frei assoziierend hergetraut. Obschon ich in jeder Hinsicht absolut unmusikalisch und des Notenlesens unkundig bin. Er könne auch nicht Notenlesen, hat Henisch gesagt. Wie auch immer, um Not und jetzige Nöte geht’s in meinem Referat, sehr verehrte Damen und Herren. Sozusagen um den angewandten, brauchbaren Henisch – hier und jetzt in dieser Zeit. Das mit dem angewandten, brauchbaren Henisch habe ich ihm vor sechs Jahren, als wir uns persönlich kennen lernten, auch so gesagt. Und das Gesprächsbuch, das wir damals dringlich begannen, hieß Frieden, Leben. Seither und in der Folge telefonieren wir gern miteinander mindestens jede Woche Minimum eine Stunde. Fürsorglich, sprich umsichtig, wie Henisch eben ist. Als Schreiber wie als Alltagsmensch. Und sprudelnd. Angekündigt hat er mir beim vorletzten Mal freilich, dass er mir jedes Mal Das habe ich nie gesagt herausrufen werde heute da hier ... I glaub’ und hoff’, das war ein Witz. Und noch was vorweg: Henisch und sein Sprudeln, am Sprudeln-Können erkenne man die lebenslieben Menschen, die Liebe zum Leben eben, hat Erich Fromm gelehrt, ohne den übrigens laut seinem Freund Milgram Milgram die Milgramexperimente nicht eingefallen wären. Soviel en passant in aller Redezeit-Eile da hier zum freien Willen. Henischs Lebensthema spätestens von Schulzeit an, also von Adolf Holl an. Der Geist somit freilich auch, der lebendig macht. Ist kein Schmus, was ich da jetzt verzapf’, sehr verehrte Damen und Herren, sondern Mentalitäts- und Ideengeschichte. Die linke Hand Gottes hat Holl z. B. gesagt, Untertitel Biographie des Heiligen Geistes. Und Der lachende Christus heißt ein anderes Hollbuch, und eines für Jugendliche, welches zumindest eine Zeitlang Bruno Kreiskys Lieblingsbuch und daher auf seinem Schreibtisch stets zugegen gewesen sein soll, hieß Wo Gott wohnt. In dem Büchl kommt Jesus als Pubertierender nochmals auf die Welt. Zirka gesagt. Einmal, Pardon, lieber, lieber Herr Henisch, habe ich Holl gefragt, ob Peter Henisch ab und zu angewandter Adolf Holl sei. Holl wies mich erschrocken, entrüstet und beschämt zurecht. Es käme alles aus und von Henisch. Aber mit dem Heiligen Geist hätten sie sich eben beide angesteckt. Inspiration nenne man das und gesunden Menschenverstand. Holl hat’s im Original lustiger und bescheidener formuliert, als ich’s jetzt wiedergebe. Jedenfalls ist der Heilige Geist ziemlich politisch bei Holl wie bei Henisch. Und vom Heiligen Geist eben kommt die Geistesgegenwart.
Warum gibt es kein Unterrichtsfach, das Helfen heißt. Und warum im Fernsehen kein Friedensprogramm? In der Schule ein Lernfach, das Helfen heißt, und im Fernsehen ein paar Stunden pro Woche ein Friedensprogramm. Auf jedem Sender die Analysen, was man wo tun kann, und in jeder Schule Helfen als Pflichtfach für da hier. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit stelle ich öffentlich dem jeweiligen Publikum diese Fragen. Seit Frühjahr 2015. Immer wieder mache ich das so. In Auseinandersetzung mit dem Lebenswerk von Fritz Orter, dem Kriegsberichterstatter, der so gerne Friedensreporter gewesen wäre. Eigentlich sind es zuvorderst seine Fragen. Orters Fragen. Henischs Vaterbuch habe ich 2017 in den vielen Treffen mit Peter Henisch vor allem mit Orters Buch Ich weiß nicht, warum ich noch lebe in Zusammenhang gebracht. Unter anderen mit Fritz Orter zusammen hatte ich zwei Jahre zuvor, 2015 eben, ein Auswege-Buch bewerkstelligt und publiziert, das Vom Helfen und vom Wohlergehen oder Wie die Politik neu und besser erfunden werden kann heißt. Dort stehen Orters eben genannte Fragen drinnen, die meines Erachtens selber bereits die Antworten sind. Auswege eben. Präventiv waren die. Die Frage nach dem Schulfach, Lernfach, Helfen beispielsweise. Was sagen die Kinder selber, dass sie oder die ihnen nahen Menschen brauchen? Darum eben könnt’s gehen. Um das eben, was die Kinder selber sagen, dass sie brauchen, und was die Kinder können oder können möchten. Präventiv wie gesagt das Ganze. Solche Schulen wären nicht im Zustand der jetzigen. Sondern helfend. Aus der Auseinandersetzung mit Orter wie gesagt sind seine, meine, meine, seine Fragen erwachsen. Und auch in Auseinandersetzung mit Werner Vogt, dem Unfallchirurgen, Notfallmediziner, ersten Wiener Pflegeanwalt. Das Auswegebuch 2015 Vom Helfen und vom Wohlergehen war auch ein Wiederholenwollen des präventiven österreichischen Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002. Initiiert haben das dazumal zuvorderst Johanna Dohnal, Stefan Schulmeister, Emmerich Tálos und eben vor allem der Kritische Mediziner Werner Vogt. Seit dem Frühling 2021 formuliere ich als neuerliche Erinnerung und Provokation das Anliegen des Volksbegehrens von neuem und öffentlich und beständig wahrheitsgemäß in etwa wie folgt: Selbstzitat: „Das präventive Sozialstaatsvolksbegehren hätte erklärtermaßen und konsequenterweise ein österreichweiter kollektiver Lern- und Diskussionsprozess mitten quer durch die Bevölkerungsgruppen und -schichten, Berufs- und Lebenswelten werden sollen zum Zwecke der gemeinsamen Prävention vor künftigen Katastrophen. Im Pflege-, Gesundheits- und Bildungswesen, Wirtschaftsgebaren und Arbeitsleben. Versorgungssicherheit. Die notwendige Sicherung ausreichender Grundversorgung in allen Bereichen des Lebensalltags. Geschützt die Versorgungssicherheit durch die Verfassung. Darum ist es tatsächlich gegangen. Warum sind die Versuche, das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen, in den letzten 20 Jahren immer wieder just auch an den Roten gescheitert? Und an der katholischen Kirche. Und geht das jetzt trotz allem weiter so?“ Mit Verlaub, auch da hinein also wollte ich Peter Henisch involvieren. Sozusagen sowohl in Orters Ich weiß nicht, warum ich noch lebe als auch in Werner Vogts Mein Arztroman. Ein Lebensbericht. Habe ich Henisch interviewend ja auch. Unglück in Glück drehen. Vom 1938 geborenen politischen Arzt Werner Vogt eben stammt diese Fügung. Gemeint ist selbige, wie wenn eine Hebamme das Kind im Bauch dreht, so das Baby und die Mutter außer Gefahr bringt. Diese richtige, gekonnte, gelernte, zuversichtliche, einfache Handgrifffolge bei der Geburt wird vollführt und alles geht gut aus in dem Moment. Kein Schicksal waltet. Das Leben und die Chancen sind doch da. Festgeschriebenes und Vorgeschriebenes neu umund weiterschreibend tut der Schreiber Peter Henisch, scheint mir, genau dasselbe, er dreht Unglück in Glück. Mutabor, ich werde verwandelt werden, heißt das Zauberwort in Henischs Lebensmärchen vom Kalifen Storch. Canetti, sehr wohl wesentlicher Bestandteil von Henischs Bibliothek, hat den Beruf des Dichters bekanntlich als Hüter der Verwandlung postuliert. Canettis wirklicher, wahrer Dichter lässt niemanden im Nichts und vermeint, lächerlicherweise hin oder her, sogar den Krieg, Weltkrieg verhindern zu können. Für den Kriegsjournalisten Fritz Orter waren Gedichte auch beruflich immer lebenswichtig, auch sozusagen als Fassung, die man wiedererlangt. Und als Konsequenz seiner Berufs- und Lebenserfahrungen wollte er, wie gesagt, einzig nur mehr Friedensberichterstatter sein und gefahrvolle Konflikte bereits im Entstehen durch rechtzeitige redliche Analyse der jeweiligen Gesamtsituation präventiv zum Deeskalieren zu bringen mithelfen. Henischs Vaterbuch jedenfalls ist auf ihrer Tagung meines Wissens mehrfach Thema. Vielleicht erinnern Sie sich dann beim Kriegsfotografen Walter Henisch assoziativ und sozusagen im Hinterkopf und Hinterherz zwischendurch ein wenig auch an den Kriegsreporter Orter.
Flugs Henischzitate schulde ich Ihnen noch, will mir scheinen, sehr verehrte Damen und Herren, und was es mit den Popper‘schen Sätzen auf sich hat und was mit Henischs Happy Ends.
Im Zeitalter des sogenannten aufgeklärten Absolutismus unter Joseph II., auch schon unter dessen Mutter, hat der Wiener Hof verboten, dass Opern und Tragödien einen schlechten Ausgang nehmen. Shakespeare z. B. musste umgeschrieben werden, Romeo und Julia etwa und Hamlet hatten nervenstark zu sein und durchzuhalten; auch hatte Gluck Orpheus und der schönen Eurydike ein Happy End zu bescheren. Gestorben wurde nicht. Aus! Basta! Schluss! Liebe, Kampf und Leben sollten erträglich sein und glücken. Zu Hofe die Stücke sowieso. Angeblich aber auch in der bürgerlichen Welt. Wiener Schluss nennt man das. Joseph II. nahm seine Verordnung allerdings wieder zurück. Interessant an dem ganzen Versuch ist z. B., dass Eurydike im antiken Ursprungsmythos der Unterwelt tatsächlich entkommt. Mythen werden eben einmal so und einmal so erzählt. Und Henischs Hamlet bleibt ja auch. Am Leben nämlich. Denn er fährt nicht zurück. Kehrt nicht heim nach Dänemark, wenn ich mich recht erinnere. Den Lumpazivagabundus hat Henisch bekanntlich auch umgeschrieben, zu einem sozusagen unkaiserlichen, unbürgerlichen, unwienerischen bösen Ende allerdings, welches aber wiederum, heißt’s, Nestroys Urvorhaben weit näher steht; außerdem gibt’s von Henisch dazu eine neuerliche Fassung mit gutem Ende auch. In dieser Variante war das böse Ende nur ein böser Traum. Sartre hat von der Freiheit gesagt, sie, die Freiheit, sei eine kleine Bewegung, die einen Menschen macht. Darum scheint’s mir bei Henisch stets zu gehen. Dem Schicksal stets zu Trotz. Manchmal auch steht, wie z. B. im jüngsten Roman, das gute Ende vielleicht gar nicht am Ende, sondern irgendwo mitten drinnen. Der Bürgermeister von Riace, ausgezeichnet ja wirklich als einer der besten Bürgermeister der Welt und sein Ort als Stadt der Zukunft weltweit wirklich vorbildlich, für die EU sowieso, wird zwar tatsächlich – was für ein Unrecht! – zu mehr als 10 Jahren Gefängnis verurteilt, aber wenn dann einmal The Saints Go Marching In, wird er einer von ihnen sein. So steht’s in der Mitte von Nichts als Himmel. Und Henischs Verirrter Messias handelt von Anfang bis Ende eigentlich von der sogenannten Parusieverzögerung. Denn wenn Mischa wirklich Jesus ist und jetzt wiedergekommen, hieße das ja, dass die Welt jetzt untergeht. Das will Henischs Messias, der ja nur gut sein kann, ja aber doch gar nicht. Auch deshalb kennt er sich oft nicht aus. Mit sich selber. Das ist aber irgendwie gut so. Kein Weltuntergang.
Durchs Reden, sehr verehrte Damen und Herren, ersparen wir uns das Sterben. Wir lassen da nämlich unsere falschen Sätze, unsere falschen Ideen, an unser statt untergehen. Sind wie Affen, die von Baum zu Baum springen; ist der Satz, den der Affe tut, falsch, dann ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Für die Evolutionsbiologen und Gehirnforscher rund um Popper ist das die Funktion der Sprache. Reden erspart Leid. Könnte. Henischs Kreativität, Einfallsreichtum und Probieren scheinen mir wie gesagt überlebenswichtig. Seine Gestalten und Figuren haben überdies den Vorteil, Pardon meiner despektierlichen Ausdrucksweise, dass sie wie Affen sind, die sich wiedererfangen und wieder hurtig und vergnügt von Baum zu Baum springen. Unkaputtbar. Irgendwie. Und mein Henisch’scher Lieblingssatz, der mich weiterhin durch mein Leben begleiten wird, lautet: Raschelt der Wind in den Blättern oder rascheln die Blätter im Wind. Es ist, kommt mir vor, der politischste Satz auf der ganzen Welt, der steht am Ende eines von Henischs Büchern und macht mich happy.
Diskussion & Ergänzungen:
Umberto Ecos Das offene Kunstwerk mag Henischlesenden vielleicht eher Assoziationsketten auslösen als Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde; und zumal Eco bekanntlich befürchtete, dass vom sogenannten Heiligen Land aus die ganze Welt in die Luft gejagt werden wird, scheint mir Henischs Verirrter Messias einmal mehr die Möglichkeit tatsächlicher Friedensgespräche hier da bei uns zu eröffnen.
Ernst Bloch, nicht Karl Popper, sei ein wesentlicher Schlüssel zu Henisch, werden auch viele meinen. Und Bloch wiederum assoziieren mit creatio continua und dem Christen Teilhard de Chardin. Mit gutem Grund. Dass Martin Bubers Du, Ich und Zwischen für Henisch Elementargrundlagen sind genauso wie Karl Jaspers’ existentielle Kommunikation, ist wohl gleichfalls evident. Ebenso Henischs Sympathien für die Frankfurter Schule, insbesondere für Adorno; egal, ob Henisch Habermas gelesen hat oder nicht, der herrschaftsfreie Diskurs ist Henischs Metier. Karl Marx’ Kapital wirklich zu lesen war Henisch zu mühsam und zu langweilig, der Humanist der Nicht-Entfremdung und exzellente Schriftsteller Karl Marx jedoch niemals. Und den Bert Brecht empfindet und erkennt Henisch als Bibelprediger, Bibeldichter.
Wovon ich Henisch noch nie erzählt habe: Vor Jahren, ein paar Monate nach unserem Kennenlernen, versuchte ich in der Folge, Michael Scharang für ein gemeinsames Buch mit Henisch und mir per Mail zu gewinnen. Scharangs Erstreaktion war heftig, meine auf Scharang auch, ein paar Monate später eine persönliche Begegnung beim gemeinsamen Freund, dem Antifaschisten Werner Vogt freundlich und herzlich. Ich habe diese literaturpolitische Sache aber sein lassen. Interessant wäre ein solches Buch immer noch, aufschlussreich für die Geschichte der linken Weltanschauungen in Österreich, die Sinne belebend vielleicht just jetzt. Soweit ich weiß, ist Henisch Andreas Bablers Wahl wegen der SPÖ beigetreten, und ihn beeindruckt also nicht allein der italienische Bürgermeister in Nichts als Himmel, sondern genauso eben der Traiskirchner und die Bürgermeisterin von Graz, der Salzburger Vizebürgermeister wohl auch.
Als Kanzler Kurz sich auf den jetzigen Papst berief bei seiner Leben gefährdenden Flüchtlingspolitik, hat Henisch ihm, wenn ich richtig vernommen habe, ein, mir scheint, italienisches Wort auf Deutsch zukommen lassen, nämlich in etwa, dass Kurz der Blitz beim Scheißen treffen soll. So nachlesbar im Falter. Politik ist für Henisch, siehe Holl, nun einmal in hohem Maße Kirchenpolitik. Christentum eben. Flucht, Vertreibung, Krieg, Zuflucht sind Henischs Lebensthemen, denn er war ja selber Kriegsund Evakuierungskind. Gerade übrigens wohl auch in seinen Muttererinnerungen, die er zurzeit aufzeichnet, wird dies auch lesbar sein. Das Vor-dem-Nichts-Stehen. Rettung und Schutz finden, helfende Menschen eben. Darum geht’s immer und immer wieder bei Henisch. Als ob dies das Grundfundament von Politik wäre.
Apropos Kurz & Co: In einem Gespräch sagte Henisch zu mir kurz vor der ersten Wahl Kurzens zum Kanzler, man müsste diesen einmal öffentlich Sind Sie echt? fragen. Und als entsetzten Versuch des Eingreifens und Einschreitens, als Kurz den Satz sagte, dass wir uns an hässliche Bilder gewöhnen werden müssen, hat Henisch bekanntlich ein schnelles Buch geschrieben und erscheinen lassen, nämlich das vor seinem Jahrhundertroman. Und zwar Siebeneinhalb Leben. Die Weiterführung von Steins Paranoia aus der Waldheimzeit.
Eine Freundin hat mir einmal erzählt, dass ihr todkranker, 20 Jahre älterer Mann, ein Familienmensch durch und durch, wollte, dass seine Lebens- und Kriegserfahrungen so aufgezeichnet und aufgearbeitet werden, wie Henischs Vaterbuch beschaffen ist. Viele Menschen der belasteten Kriegsgeneration haben auf Henischs Vaterbuch so reagiert. Daher ist Henisch ein unbelasteter Widerpart angesichts dessen, was gerade jetzt politisch geschieht.
Auf Fritz Orter habe ich in meiner Vortragslesung entschieden hingewiesen. Bei Orter ist nachlesbar und nachlernbar, gerade bei Parallellektüre zu Henischs Vaterbuch, was Kriegsberichterstattung und entsprechende Film- und Fotoreportage im Guten zu bewirken vermögen. Nicht, wann der beste Augenblick ist, abzudrücken, wenn einer aus einem brennenden Haus springt, stürzt, sondern dass jemand nicht im brennenden Haus umkommen gelassen wird, sondern gerettet daraus, weil Orters Kamerateam zufällig anwesend ist als Zeuge.
Mein Symposiumsbeitrag schloss mit dem Wind und den Blättern und der daraus folgenden Politik. Was Henisch da als Gedichtzeilen geschaffen hat, ist wie wenn von Theodor Lessing in Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen verfasst. Aus Blumen, Kühen, Wolken und tätigem Mitgefühl hat Theodor Lessing bekanntlich Politik machen wollen und wurde dafür von den HindenburgSympathisanten verfolgt und von den Nazis mittels Kopfgeldjägern ermordet.
In der amüsanten und lebhaften Diskussion nach den Lesungen von Heinrich Steinfest und von mir haben sich dankenswerter Weise Grünzweig, Müller, Henisch zu Wort gemeldet, unter anderem nach Popper fragend. Von Poppers Begriffen Verschwörungstheorie, Grausamkeitsverbot, von seinem Verständnis von Demokratie als gewaltlosem Abwählen einer Regierung, also als quasi permanent revolutionärem Akt, habe ich berichtet, dabei auch auf Kelsen verwiesen. (Die Meinungen unter Ideenhistorikern und Biographen zu Karl Poppers Kelsenaffinität divergieren vehement, um nicht zu sagen brutal.) Poppers Paradox der Intoleranz und Paradox der Freiheit habe ich, da diese Paradoxa ohnehin in aller Munde, nicht erwähnt, hingegen habe ich auf Poppers evolutionstheoretischer, reformpolitischer Bedeutung insistiert. Dass viele Popper dem Neoliberalen Hayek und dessen Propagandamaschinerie zurechnen, habe ich beiseitegelassen, desgleichen andererseits auch das von Popper inspirierte anti-neoliberale Lebenswerk des George Soros. Dass Popper Thomas Mann für Blödsinn erklärte und dass er sagte, auf Wörter komme es nicht an, habe ich just vor all den an Literatur interessierten und philologischen Anwesenden kundgetan, halte hiermit dennoch fest, wie fruchtbringend Poppers Verständnis von Sätzen, Kreativität, Phantasie und dem Lernen aus Fehlern ist, der sogenannte Fallibilismus eben samt Falsifikationen. Dass überall der Wurm drinnen sei, hat übrigens Ernst Bloch gemeint, was wiederum nicht so weit weg ist von Popper.
So also alles in allem habe ich Henisch gelesen. Henischs Enden sind nicht der Tod, seine Politik tötet nicht. Dass mein Beitrag zum Henisch-Band, den Sie in Händen halten, weder Fußnoten noch Literaturlisten aufweist, erachten Sie bitte nicht als Unredlichkeit, sondern ich war und bin durch Krankheit verhindert. Ich freute mich freilich, wenn Sie meine Zeilen als heuristisch wertvoll empfänden.
Postskript:
Habe vergessen, zu erwähnen, a) dass Henisch in der Diskussion zum hellen Vergnügen des Publikums kundtat, er wolle mit mir zusammen ein Kochbuch bewerkstelligen, weil ich ihn ja tatsächlich bei jedem unserer Telefonate Was kochen S’ denn heut’ oder Was kochst denn heut’ oder Was gibt’s heut’ zu essen frage. Manchmal antwortet er mit einem Rezept aus dem Kochbuch seiner Großmutter. Und ich, ich red’ manchmal was von Restlverwertung, nach dem Krieg und beim Schreiben, und von Menschenleben, Wegwerfleben, Wegwerfmenschen, Wegwerfgesellschaft. Und mehr als einmal da eben erinnerten wir uns an den Devianz- und Zukunftsforscher Rolf Schwendter, an dessen Kochen. Für diesen war gemeinsam zu kochen und zu essen Friedfertigkeit, Frieden stiftend; und Hunger, Hungern aber war Krieg. Ist ja wirklich so, oder?
Des Weiteren habe ich b) vergessen, auf Alexander Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern hinzuweisen. Peter Henisch, weil er als Kind geliebt wurde und selber dankbar diese Liebe erwiderte (ein gut geliebtes Kind war er, keines der schlecht geliebten, um ein prinzipielles Wort Holls zu gebrauchen), ist mit seinem Vaterbuch, mit seiner Trauerarbeit um den Vater, das Grundproblem zu lösen gelungen, das Mitscherlich im Kampf gegen den Alltagsfaschismus samt ewigem Nazitum als Tabu benannt hat, nämlich die Liebe in der Zeit der Hitlerei. Die pathologische Liebe der Nazis. Der psychoanalytischen Mitscherlich-Spur zu folgen bei Henischs Werkanalyse, würde sich, meine ich, lohnen, just heutzutage angesichts der neuen alten Fratzen. Und noch ein Wort zur Liebe: Das Hohelied der Liebe berührt den Peter Henisch zutiefst. Im Bibeltext heißt’s allerdings, dass die Liebe stark sei wie der Tod. Warum steht dort nicht, dass die Liebe stärker ist als der Tod, hab’ ich Henisch gefragt. Also irgendwie nach dem Todestrieb, siehe Freud, siehe Erich Fromm. Aber meine spontane Frage an Henisch hätte nicht sein müssen, denn bei ihm ist die Liebe tatsächlich stärker als der Tod. So schreibt er. Eine solche Art Schriftsteller ist er. Nachlesbar. An den Buchenden eben. Und am von neuem Weiterschreiben übers jeweilige Ende hinaus.
Und c) nochmals zu Henischs Bäumen, Wind und Blättern; für mich wie gesagt Politik durch und durch. Nicht bloß für mich! Beispielsweise der Soziologe Pierre Bourdieu, der übrigens Literatur und Gesellschaftswissenschaften vom Erkenntniswert her (nahezu) gleichsetzte, hat statt vom Wind, dem Baum und den Blättern von Habitus und Feld gesprochen und von Magneten, Fußballspiel und von Nussschalen im Meer. Und von Sandstürmen. Von Zeitbomben auch. Die dazugehörigen Zündmechanismen außer Betrieb zu setzen, dafür ist meines Erachtens Henischs Gesamtwerk gut und, mit Verlaub, unerlässlich.
Graz, April 2024