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Leseprobe ‚Der Jahrhundertroman‘

Und jetzt werde ich Ihnen etwas erzählen, sagt Roch, was wenige wissen: Wie bei Christine Nöstlinger eines schönen Tages mitten in der Nacht das Telefon klingelt. Sie tastet nach dem Hörer und hebt ab.
Es knistert in der Leitung.
Wer spricht? fragt sie.
Hemingway, sagt die Stimme. I've just read the american translation of your book Maikäfer flieg.

Es knistert stark in der Leitung.
A fucking good book.
Jetzt hör aber auf, Qualtinger, sagt Christine Nöstlinger.
Eine wie mich kannst du nicht auf die Schaufel nehmen.
Auf die Schaufel nehmen? sagt Hemingway. What do you mean by that? And who the hell is Qualtinger? I'm Hemingway.
Das kann ein jeder sagen, sagt die Nöstlinger.
Ich bin nicht ein jeder, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich bin der Champion aller literarischen Gewichtsklassen.

Angeber! sagt die Nöstlinger.
I'd like to marry you.
Jetzt mach aber einen Punkt, sagt sie, I'm just divorced, sagt Hemingway. Ich nicht, sagt die Nöstlinger.
It does not matter, sagt Hemingway. Nobody is perfect. I'll take the next flight to Vienna to meet you.
Aber das geht nicht, sagt Lisa.
Warum denn nicht? fragt Roch.
Wann, sagen Sie, ist dieses Buch erschienen? 1973?
Ja, ich glaube, sagt Roch.
Na ja, dann haben wir ein Problem.
Was denn für ein Problem?
Da war Hemingway schon zwölf Jahre tot.
Wer sagt das? fragt Roch.
Mein Smartphone, sagt Lisa.
Ach was, sagt Roch. Ihr idiotisches Smartphone. Werfen Sie sie es weg. Schmeißen sie es in den Müllschlucker. Der zu häufige Gebrauch solcher Geräte ruiniert jede Kreativität.

 

Möglichkeitssinn, Fräulein Lisa, Möglichkeitssinn. Wir können auch böse Geschichten gut ausgehen lassen. Also sehen Sie: Zum Beispiel diese Geschichte mit Horvath in Paris. Schauen wir, ob sich da nicht noch etwas machen läßt.

Also wie war das? Horvath geht über die Champs Elysées zu seinem Hotel und da kommt dieser böige Wind auf. Und die Kastanienblüten fallen auf den Gehsteig und gleich wird auch der Ast fallen, der für ihn bestimmt ist. Und: Volltreffer, ein wuchtiger Aufprall auf Hut, Haar, Haut, Knochen, und in Horvaths Kopf wird es schwarz, blackout. Und das war halt Bestimmung, Schicksal, Beschluss irgendwelcher grauen Mächte.

Nein, Lisa, das muss nicht sein, wir können die Geschichte auch anders zu Ende denken. Okay, es weht ein böiger Wind, okay, der Ast wird vom Baum gerissen, okay, da unten ist der Autor, den er treffen soll. Doch vielleicht hat der im vorletzten Moment einen Schritt zur Seite getan, ein halber Meter würde vielleicht schon reichen. Und da prallt dieser Ast zwar gewaltig aufs nasse Straßenpflaster, aber, wie Horvath lapidar konstatiert: knapp daneben.

Alles wird gut, sagt Roch. Sie werden sehen, alles wird gut. Keine Angst, sagt er. Es ist wichtig, keine Angst zu haben. Und er nimmt ihre Hand. Und sie entzieht ihm ihre Hand nicht. Das ist das erste Mal, dass sie sich das gefallen lässt.