Mortimer & Miss Molly
Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Dieser Renaissancegarten ist geometrisch gestaltet, sechs von Hecken gesäumte Trapeze umgeben ein kreisförmiges Zentrum. Radius: nicht mehr als fünf Meter. In diesem Zentrum landet Mortimer.
Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schöne Szene. Für einen Film, den ein Fellini hätte drehen können. Miss Molly steht am Fenster, sie hat den weißen Vorhang ein wenig beiseite geschoben. Und sieht Mortimer, einen soeben mit dem Fallschirm gelandeten, amerikanischen Soldaten.
Das heißt: Sie sieht ihn noch nicht – er ist ja vorerst vom Fallschirm bedeckt. Oben Miss Molly, die den Vorhang ein wenig beiseite gezogen hat, unten Mortimer, der unter der Fallschirmseide hervor muss. Das soll möglichst rasch gehen, aber es ist nicht so einfach. Verwicklungen kommen vor, bei aller Routine.
Miss Molly wartet, bis sich der Mann entpuppt. Gewiss, eine schöne Filmszene, sagte Julia.
Fellini hat diesen Film nicht gedreht, Gott sei Dank. Denn vielleicht werde ich ihn eines Tages drehen, sagte Marco.
Die Maschine ist tief geflogen, über Miss Mollys Kopf haben die Dachziegel gezittert. Ein Jagdbomber P-40 (Tomahawk) oder P-47 (Thunderbolt). Es ist ein Tag im Frühling 1944. Die alliierten Truppen sind vom Süden heraufgekommen.
Ist der amerikanische Soldat zielgenau gelandet? Nein, das ist Unsinn. Mortimer hat dieses Ziel nicht anvisiert. Er hat aussteigen müssen, die Maschine war von der deutschen Flak getroffen. Irgendwo jenseits der Stadtmauer ist sie explodiert.
Dass der Kreis, in dem er vorläufig noch mit dem Fallschirm kämpft, beinahe so aussieht wie das Zentrum einer Zielscheibe, kommt ihm erst später zu Bewusstsein. Reiner Zufall, dass er darin gelandet ist – oder war es am Ende doch Fügung? Auf jeden Fall, so wird er später erzählen, ist er in diesem Kreis gelandet. Unter den Augen oder zu Füßen von Miss Molly.
2
Der alte Amerikaner im Albergo Fantini. Als Marco und Julia das erste Mal dort hinkamen, war er außer ihnen der einzige Gast. Er bewohnte das Zimmer 9 im zweiten Stock, sie bewohnten das Zimmer 11. Von beiden Zimmern sah man hinüber in den giardino.
Aus Zimmer 9 sah man mehr vom Garten als aus Zimmer 11. Aus dem Fenster des Zimmers, in dem Marco und Julia wohnten, sah man ja eigentlich nur das Tor. Aus dem Fenster von Zimmer 9 hatte man, was den Garten betraf, den besseren Blickwinkel. Von dort aus sah man etwas von der Geometrie der Beete, und vor allem sah man das schmale Haus in der Stadtmauer.
Sie hatten ihn gar nicht von Beginn an bemerkt. Die ersten paar Tage, die sie in diesem etwas ramponierten, aber sympathischen kleinen Hotel verbrachten, hatten sie geglaubt, sie wären allein. Zumindest dort oben im zweiten Stock. Das war ihnen sehr recht. Da benahmen sie sich sehr unbefangen.
Manchmal liefen sie nackt aus ihrem Zimmer zum Etagenbad, wo sie in der großen, mitten im Raum stehenden Blechwanne miteinander badeten. Und dann liefen sie, nur in Handtücher gewickelt, zurück in ihr Zimmer, in dem sie meist gleich wieder ins Bett fielen. Auch was Geräusche betraf, taten sie sich keinen Zwang an. Vor allem lachten sie viel, denn sie hatten es lustig miteinander.
Den alten Amerikaner bemerkten sie erst nach etwa einer Woche. Schon eigenartig, dass er ihnen nicht früher aufgefallen war. Es war gegen Abend, sie kamen vom Fluss zurück, an dem sie einen heißen Nachmittag verbracht hatten, auf einem der großen, flachen Steine, auf denen sie so gern lagen. Ihre Haut glühte noch nach. Sie überquerten die Piazza. Und da sahen sie ihn zum ersten Mal dort oben am Fenster stehen.
Schau, sagte Julia. Der alte Mann dort oben.
Che tipo, sagte Marco. Sieht ein bisschen aus wie der alte Hemingway.
Das sagte Marco allerdings auf Französisch, nicht auf Italienisch und sicher nicht auf Deutsch. Französisch war die Sprache, in der sie sich anfangs am besten verständigen konnten.
aus: Mortimer & Molly.
Deuticke Verlag.
Außenseiter aus Passion
Der aufrecht stehende Mensch
Ausgerechnet hier: Auf einem der schönsten Plätze der Stadt ... Bis noch vor kurzer Zeit ein Ort heiter gelassenen Flanierens. Ein Ort an dem man bei einem Glas kühlem Weißwein sitzen und dem netten, menschlichen Treiben zusehen konnte. Wir haben gern hier Pause gemacht auf unserer Fahrt nach Süden oder auf der Fahrt zurück nach Norden, ein Abend in dieser Stadt, den man auf diesem Platz ausklingen lassen konnte, war eine erfreuliche Perspektive.
Wir hätten uns nicht ausgerechnet hierher setzen sollen, von einem anderen Tisch vor einem der anderen Lokale hätten wir den Typ mit dem Hund vielleicht gar nicht bemerkt. Zumindest hätten ihn weniger beachtet. Allerdings haben die meisten Lokale auf der Piazza schon zu. Früh schlafen gehen, zeitig aufstehen, arbeiten, sparen – anscheinend hat der neue Puritanismus nun auch dieses Land erfasst.
Die Aggression, die in der Luft liegt, in dieser unbehaglichen, ja geradezu unheimlichen Leere. Fast niemand zu sehen, außer eben dem Typ, der, ob uns das nun passt oder nicht, unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein aufrecht stehender, von oben bis unten in schwarzes Leder mit allerlei Metallbeschlägen gekleideter Mensch. Zu seinen Füßen ein Hund mit schwarzem, metallbeschlagenem Lederhalsband.
A terra, completamente, zu Boden, total! herrscht der Mensch den Hund an. Und der Hund, kurz an der Leine gehalten, an der sein Herr ab und zu reißt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, dieser Hund, ein großes, schwarzes Tier, gutmütig und gedemütigt ,läßt sich das gefallen. A terra completamente , da liegt er dann, in totaler Unterwerfungshaltung. Irgendwann wird er vielleicht durchdrehen, nach allem, was er sein bisheriges Hundeleben lang hinunter geschluckt hat, ja, durchdrehen und beißen wird er, aber womöglich beißt er dann gerade den Menschen, der seinen Herrn, dieses xxx-Arschloch, zur Rede stellt.
Die aufrechte Haltung, der aufrechte Gang, das ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Mensch der Antike auf Augenhöhe mit den schön gedachten Göttern, der Mensch des Alten und Neuen Testaments beinah schon auf Augenhöhe mit einem sich zu immer deutlicher erkennbarer Humanität hin entwickelnden Gott. Auch wenn dieser Gott dann manchmal in Zorn gerät und – ebenso wie seine angeblichen Ebenbilder – rückfällig wird, weit in der Zeit zurückfällt. A terra, completamente! Aber das sind erschreckende Atavismen.
Und die Aufklärung, die solche Atavismen ein für allemal überwinden wollte ... Und die Klassik mit ihren edlen Modellen .... An so was zu denken und dazu diesen Typ mit seinem Hund zu sehen ... Und – nicht zu vergessen – die zwei Kaugummi kauenden Tussis, die ihn, links und rechts von ihm hin gegossen, bewundern ...
Endlich ziehen sie ab: Der Herrenmensch, sein armer Hund und die auf absurd hohen Absätzen dahin klappernden Mädchen. Wir atmen auf und hätten gern noch zwei Gläser Wein um den Abend halbwegs harmonisch zu beenden. Aber das geht nicht mehr, so was war einmal. Der Computer ist schon herunter gefahren, sagt die Kellnerin, sie kann den Wein nicht mehr bonieren.
aus: Außenseiter aus Passion.
Sonderzahl Verlag.
Eine sehr kleine Frau
Sie war eine sehr kleine Frau - in den Kaufhäusern Gerngroß und Herzmansky, zu deren treuesten Kundinnen sie zählte, paßten ihr oft Kleider aus der Kinderabteilung. Als sie mit über achtzig nach einem Oberschenkelhalsbruch nicht mehr recht auf die Beine kam und vorübergehend in einem Pflegeheim untergebracht war, das wir uns auf die Dauer nicht leisten konnten, scheint sie sich tatsächlich wieder wie ein Kind gefühlt zu haben. Habt ihr mir meine Puppe mitgebracht? fragte sie - Katrin' und ich, die sie anscheinend für ihre Eltern hielt, schüttelten etwas beklommen die Köpfe. Sie aber nickte und sank zurück, hockte in der Ecke und sah drein wie das kleine Mädchen auf der Fotografie, die sie mir manchmal gezeigt hatte, ein kartonstarkes Bild von jenem matten Braunton, der die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommenen Fotos so schön macht.
Eine sehr kleine Frau war sie, ja - ins Kino nahm sie in ihrer alten Krankenschwesterntasche zwei Telefonbücher mit. Wenn sie auf denen saß, war sie oben so groß wie andere Leute, aber unten baumelten ihre Beine. Sie packte die Telefonbücher erst aus, wenn das Licht erlosch, und schob sich dann mit einer Technik, die sie im Lauf der Jahre perfektioniert hatte, auf den hochgestapelten Sitz - die hinter ihr Sitzenden bemerkten das kaum. Am Ende des Films aber galt es, wieder hinunter zu gleiten und die Bücher in der Tasche verschwinden zu lassen, bevor das Licht anging, etwas, das sie bei aller Benommenheit durch die großen Ereignisse, die noch vor kurzem auf der Leinwand zu sehen gewesen waren, nicht immer schaffte - sobald ich anfing, ihr über den Kopf zu wachsen, ging ich in solchen Fällen ein paar Schritte voraus und wartete, am Ende der Reihe in die Luft schauend, bis sie die Telefonbücher endlich wieder in der Tasche verstaut hatte.
Meine Mutter nannte diese Tasche eine Hebammentasche. Aber meine Großmutter ist nie Hebamme gewesen. Sie war allerdings Säuglingsschwester im Allgemeinen Krankenhaus. Kurz nachdem man sie - eigenartigerweise etwas früher als damals üblich - in Pension geschickt hatte, kaufte sie das Klavier.
aus: Eine sehr kleine Frau.
Deuticke Verlag, Wien 2007.
Die schwangere Madonna
Ein grüner VW-Golf, nicht sehr gepflegt, nur unzureichend beseitigte Spuren von Vogeldreck auf dem Dach. Einige Kratzer an der linken Seite. Am Rückspiegel, der einen Sprung hatte, hingen Wassertröpfchen. Aber - tatsächlich! - der Schlüssel steckte im Türschloß.
Ich schaute mich um. In diesem Moment war der Schulparkplatz so gut wie leer. Ich griff nach dem Schlüssel, ich öffnete die Tür und stieg ein. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloß, ich rückte den Fahrersitz in die für mich passende Position. Ein paar Sekunden beobachtete ich noch fasziniert die Scheibenwischer, die sich hin und her bewegten wie ein Metronom.
Ich schaltete das Blinklicht ein, ich löste die Handbremse. Ich betätigte die Kupplung, drehte den Zündschlüssel vollends nach rechts, suchte den Rückwärtsgang. Auf dem Rücksitz lag, etwas unordentlich hingeworfen, wie mir schien, ein schwarzer Mantel. Trotz schlechter Sicht durch die etwas verschmierte Heckscheibe gelang mir das Ausparkmanöver.
Dann fuhr ich ganz einfach. Fuhr die Straße hinunter, die ich zu Fuß herauf gekommen war. Beim Schalten vom ersten auf den zweiten Gang war ich etwas zu zaghaft und trat die Kupplung nicht ganz durch. Der Motor reagierte recht unwillig. Hinter mir glaubte ich einen Moment lang etwas anderes weniger zu hören als zu spüren. Eher eine Bewegung als ein Geräusch. Aber ich mußte mich aufs Fahren konzentrieren.
Es ging gar nicht schlecht. Beim Überholen hatte ich anfangs noch Herzklopfen, aber es gelang wie im Traum. Mir fiel jetzt ein, daß ich manchmal vom Fahren geträumt hatte. Ich saß am Steuer und fuhr. Ich konnte das einfach. Wenn mir bewußt wurde, daß ich keinen Führerschein hatte, war das ein aufregendes Gefühl.
Natürlich war dieses Gefühl auch mit einer gewissen Bangigkeit vermischt. Was, wenn ich irgend etwas falsch machte und dadurch auffällig wurde? Was, wenn ich zwar nicht auffällig wurde, aber zufällig in eine Verkehrskontrolle geriet? Und was, wenn ich zwar fahren aber nicht einparken konnte?
So etwa der Traum. Aber das jetzt war Wirklichkeit. Ich fuhr eine Ausfallstraße Richtung Stadtgrenze. Der Nebel war aufgerissen, nun schien sogar ein wenig Sonne. Ich geriet in eine fast euphorische Stimmung.
Die Auffahrt zur Autobahn nahm ich mit einem gewissen Elan.
In diesem Moment richtete sich das Mädchen hinter mir auf. Sie war zusammengekauert unter dem Mantel gelegen. Ihre embryonale Schlafstellung hat mich in den folgenden Tagen immer wieder gerührt.
Natürlich erschrak ich. Unsere Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Der Wagen geriet mir gefährlich nah an die Leitschiene. Kaum hatten wir sie bemerkt, hätte unsere Gemeinsamkeit auch schon zu Ende sein können. Wir hatten aber Glück. Ich behielt das Lenkrad einigermaßen im Griff.
Aufgerichtet sah das Mädchen beinahe wie eine erwachsene Frau aus.
Das ist aber nicht Ihr Auto, stellte sie fest.
Nein, sagte ich. Gehört es deinem Vater?
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ihre Augenlider wirkten schwer.
Auch ihre Zunge schien etwas schwer zu sein.
Das Auto gehört dem Wolfgang, sagte sie schließlich.
Also deinem Freund, sagte ich.
Darauf antwortete sie vorerst nicht.
Dann sagte sie: Der Wolf ist mein Religionslehrer.
Ah ja, sagte ich. Ah ja, klar. Deswegen also hing das kleine, silberne Kreuz über dem Armaturenbrett. In der scharfen Kurve, die wir mit Glück und Geschick überstanden hatten, war es in Bewegung geraten.
Und was machst du in seinem Auto?
Ich habe auf ihn gewartet, sagte sie. Aber das geht Sie nichts an. Was machen eigentlich Sie in seinem Auto?
Keine ganz abwegige Frage, nicht wahr? Was sollte ich antworten? Vor allem aber, was sollte ich tun? Mein erster Impuls war gewesen, sie an der nächsten Ausweichstelle aussteigen zu heißen. Vermutlich würde sie die Polizei verständigen, aber vielleicht war ich bis dahin ohnehin schon gegen einen Baum gefahren. Wahrscheinlich hätte ich mich erst gar nicht auf ein Gespräch mit ihr einlassen sollen. Auch der bloße Ansatz eines Gesprächs war schon zu viel. Die Ausweichstelle, nach der ich Ausschau hielt, kam schon nach wenigen Kilometern, ich fuhr daran vorbei. Ich konnte diese junge, eigenartig schläfrige Person nicht einfach hier aussetzen!
Was machen eigentlich Sie in diesem Auto? wiederholte sie.
Ich fahre davon, sagte ich, das heißt, ich wollte davonfahren ...
Einfach so?
Nein, sagte ich. Nicht einfach so...
Das sei schwer zu erklären. Aber jetzt sei ohnehin alles anders.
Wieso? fragte sie.
Weil ich jetzt umkehren müsse. Bei der nächsten Möglichkeit fahre ich von der Autobahn ab und in der Gegenrichtung wieder auf.
Ich bring dich dorthin zurück, sagte ich, woher ich dich versehentlich mitgenommen habe. Und dein Religionslehrer kriegt sein Auto wieder.
Nein! sagte sie. Für einen Moment wirkte sie sehr wach.
Was heiß nein? fragte ich.
Ich will nicht zurück, sagte sie.
Und warum nicht? fragte ich.
Das sei auch schwer zu erklären, sagte sie. Aber dem Wolf, diesem Arsch, geschehe ganz recht.
Nach diesen Worten legte sie sich wieder hin und verkroch sich unter den Mantel. Es konnte nicht ihrer sein, dazu war er zu groß.
Aber ... sagte ich.
Fahren Sie einfach weiter, sagte sie. Und lassen Sie mich schlafen. Ich habe ein Valium genommen.
aus: Die schwangere Madonna.
Residenz Verlag, Salzburg 2005.
Vom Baronkarl; Peripheriegschichten
Einmal ist ein besserer Herr zum Baronkarl gekommen, der hat schon viel vom Baronkarl gehört gehabt. Wo ist dieser kuriose Mensch, hat er sich erkundigt, der in einer Mülltonne lebt - ich möcht ihn was fragen. Da haben sie ihn zum Baronkarl hingeführt, und der ist gerade aufgekrabbelt, es war zeitig in der Früh. Und der Baronkarl ist dagestanden in seiner Gattehosen und hat sein Gewand ausgebeutelt.
Und der bessere Herr hat die Nase gerümpft und den Baronkarl angeschaut durch seine Brille. Und hat sich geräuspert, damit ihn der Baronkarl überhaupt beachtet. Baronkarl, hat dann der bessere Herr gesagt, aus seinem sauberen Anzug heraus, wie bringen Sie das zusammen? Allerweil in diesem Schmutz leben, Jahr und Tag, wie irgendein Ungeziefer?
SehnS, hat da der Baronkarl geantwortet, ich beutel meinen Dreck ja jeden Tag in der Früh ab. Mein Dreck, hat der Baronkarl geantwortet, ist außen um mich herum, mit dem kenn ich mich aus. Und mein Verhältnis zu Flöhen und Wanzen ist klar. Die leben von mir, aber ich nicht von ihnen.
Sie aber, lieber Herr, in ihrer sauberen Wäsch: Wissen Sie auch, in welchem Dreck Sie leben? KönnenS ihn auch abbeuteln jeden Tag in der Früh? Und sind Sie so sicher wie ich, keine Wanze zu sein?
*
Ein anderer Herr, mit einer schweren Uhrkette am Bauch, soll den Baronkarl einmal heimgesucht haben. WissenS, Baronkarl, hat er gesagt, Sie sind mir unheimlich sympathisch. Wie Sie das machen, uns alle in Frage stellen in unserer Sattheit. WissenS, Baronkarl, also das find ich ausgesprochen klass.
Bei den Worten mit der Sattheit, den sehr schriftdeutschen, soll er sich auf den Bauch geklopft haben, der Herr. Und die Uhrkette hat gescheppert und das Geld in der Jacke dazu. Man muß aber wissen, daß zu der Zeit so gut wie überhaupt niemand satt war. Außer, wie meistens, ein paar auf Kosten der andern.
Baronkarl, hat er gesagt, jetzt hörenS mich an. Baronkarl, schaunS, ich mach Ihnen einen Vorschlag. Baronkarl, nichtwahr, Sie sind doch ein intelligenter Mensch: Also: Sie können sich was verdienen bei mir.
Und hat dem Baronkarl eine Flasche Wein hingestellt, vom recht alten, vor die Füß. Der Baronkarl ist nämlich auf seiner Kiste gesessen und hat die Füß baumeln lassen. Und der Herr mit der Uhrkette hat gewartet, daß der Baronkarl die Flasche anfaßt. Und der Herr mit der Uhrkette hat gewartet, daß der Baronkarl was sagt.
Doch der Baronkarl hat nur die Füß baumeln lassen und die Sonn angeschaut. Die Sonn geht nämlich sehr schön rot unter im 10. Bezirk. Sie machen, hat der Herr mit der Uhrkette gesagt, was sie sonst auch machen. Aber Sie schreiben darüber: für mein Journal.
Wie er das gesagt hat, ist der Herr mit der Uhrkette zwischen dem Baronkarl und der schönen roten Sonn gestanden. Der Baronkarl aber hat die schöne rote Sonn sehen wollen, wie sie untergeht, und nicht den Herrn mit der Uhrkette. Also hat der Baronkarl durchzuschauen probiert durch den, aber dem sein Vater war kein Glaserer. Da hat ihn der Baronkarl also doch anschauen müssen, aber gesagt: GehnS mir bittschön aus der Sonn!
aus: Baronkarl. Alte und neue Peripheriegeschichten.
Bibliothek der Provinz, Weitra 1992, S.80f.
Pepi Prohaska Prophet
en face: Herr Prohaska, Sie und Ihre Anhänger haben dieses alte Fabriksgebäude hier am Fuße des Wienerbergs besetzt. Warum?
Prohaska: Wir wollen ein anderes Leben führen als das den meisten Menschen in unserer Zeit zugemutete. Darum.
en face: Was für ein Leben?
Prohaska: Ein unmittelbareres. Ein ehrlicheres. Ein einfacheres. Ein vergnüglicheres. Man könnte auch sagen: ein gottgefälligeres.
en face: Darauf werden wir noch zurückkommen, aber vorerst zu den Fakten. Sie und Ihre Jünger ...
Prohaska: Sagen Sie lieber: ich und meine Freunde ...
en face: Seit wann hausen Sie hier?
Prohaska: Seit Frühlingsanfang. Das war ein guter Termin.
en face: Nicht noch ein bißchen kalt?
Prohaska: Oh doch. Aber wir können uns aneinander erwärmen.
en face: Auch darauf werden wir noch zurückkommen. Wieviele waren Sie zu Beginn?
Prohaska: Sieben. Das ist eine gute Zahl.
en face: Und wieviele sind Sie jetzt?
Prohaska: Das wechselt. Sagen wir vierzig.
en face: Männlein und Weiblein?
Prohaska: Natürlich. So hat uns der liebe Gott konzipiert.
en face: Schön. Und was tun Sie hier?
Prohaska: Na, schaun Sie sich doch um!
en face: Sie säen nicht, Sie ernten nicht ...
Prohaska: Nein. Aber wir haben zum Beispiel begonnen, diese Fabrik herzurichten.
en face: Auf eigenwillige Weise ...
Prohaska: Klar sind wir eigenwillig.
en face: Keine Schwierigkeiten mit den Behörden?
Prohaska: Bis dato sind die vorsichtig.
en facee: Wieso eigentlich?
Prohaska: Vielleicht liegt's an meinem Charisma.
en face: Sie meinen, die wissen nicht, was sie von Ihnen halten sollen?
Prohaska: So kann man es auch ausdrücken. en face: Daß Sie den Kardinal und den Oberrabbiner eingeladen haben, Sie zu besuchen - stimmt das?
Prohaska Ja, das stimmt.
en face: Und?
Prohaska: Ich warte.
en face: Worauf?
Prohaska: Ich warte auf Antwort.
en face: Angenommen, die beiden Herren besuchen Sie wirklich - glauben Sie, daß diese Wandgemälde ...
Prohaska: Welche?
en face: Na die hier... daß diese Wandgemälde ihnen gefallen werden?
Prohaska: Und warum nicht?
en face: Man könnte sie, sagen wir, pornographisch finden.
Prohaska: Könnte man. Ja. Ich finde sie lebenslustig.
en face: Okay. Was machen Sie sonst außer mauern und malen?
Prohaska: Musik.
en face: Man hört es.
Prohaska: Wir singen und tanzen.
en face: Und weiter?
Prohaska: Wir fischen im Ziegelteich. Wir essen und trinken. Wir lieben uns und einander.
en face: Alles zur höheren Ehre Gottes?
Prohaska: Na sicher.
en face: Wieso?
Prohaska: Weil Gott das Leben, das die meisten anderen führen, mißfällt.
en face: Das hat er Ihnen gesagt?
Prohaska: Das hat er mir nicht zu sagen brauchen.
en face: Und was sagt er Ihnen sonst?
Prohaska: Tu weiter so, Pepi.
en face: Na, Gott befohlen! Sagen Sie - woher kommen Ihre Anhänger?
Prohaska: Sie meinen milieumäßig? Also das ist verschieden.
en face: Nicht doch im wesentlichen aus dem Studentenmilieu?
Prohaska: Ja, aber nicht ausschließlich. Die Ines da drüben zum Beispiel kommt aus einem Teppichbegehinstitut.
en face: Einem was?
Prohaska: Aus einem Teppichbegehinstitut. Das ist ein Institut, in dem man Spannteppiche begeht, um auszuprobieren, wie lang sie begangen werden können. Man begeht sie übrigens nicht persönlich, sondern maschinell. So sinnvoll hat sie bisher acht Stunden am Tag verbracht. Glauben Sie nicht auch, daß es Gott lieber ist, wenn sie das sein läßt?
en face: Das können wir nicht beurteilen. Aber Sie meinen wohl, daß das Sinnangebot des modernen Lebens ...
Prohaska: Gewonnen, gewonnen! Dieses Angebot ist keins. Es wird für normal gehalten, daß man zwei Drittel des Tages, der Woche, des Monats, des Lebens, Blödsinn macht, um sich im dritten Drittel davon erholen zu können. Zum Ausgleich des dadurch entstehenden Sinndefizits bekommt man Geld und kann sich in dieser lebenslänglichen Sinnlosigkeit komfortabel einrichten.
en face: Sehen Sie das nicht etwas allzu pauschal?
Prohaskaa: Nein. Ich denke mir, Gott muß das auch so pauschal sehn. en face: Ja, wenn er von sehr hoch oben herunterschaut. Aber einmal angenommen, es gibt ihn: sieht Gott nicht auch jeden einzelnen aus der Nähe?
Prohaska: Schon. Aber nicht als Konsumidioten, verstehn Sie? Und ebensowenig als Produktionstrottel, glaub ich. So sieht uns bestimmt nicht Gott, so sieht uns die Wirtschaft. Aber: Du kannst nicht zugleich Gott und dem Mammon dienen; Matthäus 6/24.
en face: Ja, Herr Prohaska. Auch wir haben die Bergpredigt zitiert. Aber wie stellen Sie sich das vor? Weg von der Geldwirtschaft? Zurück zur Tauschwirtschaft?
Prohaska: Es gibt einen Film mit den Marx-Brothers, den ich sehr gern hab. Da treffen sich zwei dieser Brüder, nachdem sie sich lang nicht gesehn haben - und dann zieht jeder der beiden die gleiche Stange Wurst aus der Brusttasche und überreicht sie dem andern.
en face: Wie sollen wir das verstehen?
Prohaska: Verstehn Sie's als Modell. Das ist nicht nur Warentausch, sondern auch Austausch von Liebe. Jeder hat dem andern etwas zu bieten, es ist im Grund genommen das andere vom selben. Aber man freut sich, umarmt sich und klopft sich gegenseitig auf die Schulter.
en face: Fein. Aber ziemlich utopisch, finden Sie nicht? Vor allem: wer zahlt die Salami?
Prohaska: (schweigt).
en face: Apropos zahlen. Pepi, wer finanziert Sie?
Prohaska: Nur wenn Sie's nicht weitersagen verrat ich's: Moskau.
en face: Lassen wir das, Herr Prohaska. Viele Ihrer Anhänger sind sehr jung.
Prohaska: Na und? Wenn sie in Pension sind, ist es zu spät.
en face: Wozu?
Prohaska: Zum Leben.
en face: Nach Ihrer Façon?
Prohaska: Nach ihrer eigenen Façon. Das ist es, worauf es ankommt.
en face: Und wenn das alle tun?
Prohaska: Die Gefahr besteht nicht.
en face: Nur einmal angenommen.
Prohaska: Na, dann kommt vielleicht das Reich Gottes.
en face: Wahrscheinlich kommt eher der Kreislaufkollaps des Staates.
Prohaska: Das hätten Sie aber Jesus auch sagen können.
en face: Stichwort Jesus, Pepi. Ihr Selbstverständnis. Sie fühlen sich als Prophet. Haben Sie Gott gesucht?
Prohaska: Das ist ein Mißverständnis. Ich bin ja kein Heiliger. Ein Prophet ist nicht einer, der Gott sucht, sondern einer, der von Gott gesucht wird.
en face: Gott hat also Sie gesucht. Und hat Sie gefunden.
Prohaska: Es scheint so.
en face: Und Sie glauben, daß er in Ihnen den Richtigen erwischt hat?
Prohaska: Ich hoffe.
en face: Herr Prohaska, was prophezeien Sie eigentlich?
Prohaska: Auch das ist ein Mißverständnis. Ein Prophet ist ja kein Wetterfrosch.
en face: Sondern?
Prohaska: Einer, der zum Beispiel die Herrschenden schön schimpft.
en face: Im Namen Gottes?
Prohaska: Im Namen Gottes und der Menschen.
en face: Tun Sie das, Pepi?
Prohaska: Ich steh ja erst ziemlich am Anfang.
en face: Pepi Prohaska, wir danken für dieses Gespräch.
aus: Pepi Prohaska Prophet.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 1986, S.228ff.
Steins Paranoia
Er war, so sah er sich selbst, ein zurückhaltender Mensch. Selten kam es vor, daß er sich in der Öffentlichkeit in ein Gespräch mischte. Manchmal dachte er daran, sich einzumischen, weil ihm auf dies oder das etwas Interessantes, Amüsantes oder gar Provokantes einfiel. Aber er brauchte seine Zeit, bis er solche Gedanken aussprechen wollte, konnte, und wenn diese Zeit verstrichen war, fand er meistens, der richtige Zeitpunkt sei nun ohnehin schon vorbei. Außerdem scheute er (Stein) auch nur ansatzweise aggressive Berührungen. Wenn er sich vorstellte, daß er den Betrunkenen, der womöglich auf ihn eingedrungen wäre, von sich hätte abwehren müssen ... Obwohl das vermutlich nicht schwer gewesen wäre, denn der Mann war - zumindest in Steins Erinnerung - wenigstens sechzig und wacklig auf den Beinen. Es war aber Marion dabei gewesen, und vor allem um ihretwillen hatte Stein, redete er sich ein, die Auseinandersetzung mit dem Betrunkenen vermieden.
Mit dem Betrunkenen.Falls dieser Mann überhaupt betrunken gewesen war. Falls Steins Erinnerung diesem Mann (und dem Satz, den er gesagt hatte) die Trunkenheit nicht erst im Nachhinein hinzufügte. Als verharmlosendes Akzidenz, als mildernden Umstand (für den Mann und für sich). Vielleicht hatte der nicht gewußt, was er gesagt hatte, vielleicht mußte man es daher, wenn man es gehört hatte, gar nicht so ernst nehmen, vielleicht war alles halb so schlimm.
Es wird a Wein sein (auch Stein trank ab und zu gern ein Gläschen, nicht nur am Schabat). Und mir wern nimmer sein (um die Sitten und Gebräuche seiner übriggebliebenen Verwandtschaft kümmerte sich Stein wenig). Aber wer wird nimmer sein? fragte der Großvater, als er sich nach langer Abwesenheit, erstaunlich, aber wahr, erstmals um seinen Enkel, der es allerdings nötig hatte, kümmerte. Na mir wern nimmer sein. Wer wir? fragte der Großvater. Österreicher samma alle.
Sagte der Enkel. Menschen samma alle. Aber das ist ein Irrtum. Sagte der Großvater. War schon ein Irrtum, als ich noch gelebt hab. Oj Oj Oj, schicker ist der Goj, aber deswegen wird er nicht harmloser. Was ist das übrigens für eine verworrene Geschichte - zu meiner Zeit hat man noch anständig erzählt.
So etwa: An einem Montag Mitte der achtziger Jahre, kurz nach sechs Uhr abend, sagte ein möglicherweise betrunkener älterer Mann im Zeitungskiosk bei der U-Bahn-Haltestelle Wien-Schottenring einen von jenen Sätzen, die man zu jener Zeit oder wenigstens bald darauf wieder öfter hörte, ohne sie wirklich zu hören. Wahrscheinlich wäre auch dieser Satz, unerhört, wie er war, ungehört, also nicht wahrgenommen, nicht ernstgenommen geblieben, hätte nicht gerade ein gewisser Max Stein, begleitet von seiner zehnjährigen Tochter, die Trafik betreten. In Steins oft und oft vor seinem inneren Auge abgespulten Erinnerungsfilm war die Reihenfolge übrigens umgekehrt: zuerst betrat Marion die Trafik, sie zog ihren Vater hinter sich her.
Jede Woche um diese Zeit wünschte sie sich, von Stein aus einem Tanzinstitut in der Neutorgasse abgeholt, wo sie einen Jazz-Basic-Kurs besuchte, ein Mickymausheft. Die väterliche Hand loslassend, rattenschlank zwischen den großen, plumpen Erwachsenenkörpern, die das schlauchartige Geschäftslokal überfüllten, hindurchhuschend, strebte sie nach dem Regal mit den Comicstripheften. Ihre Aufmerksamkeit war also in diesem Moment so sehr, noch dazu visuell, fixiert, daß Stein hoffen konnte, auch von ihren schmalen, durchscheinenden, vor Eifer etwas geröteten Ohren sei der Satz nicht bis ins Gehirn vorgedrungen. Für ihren Fall fand er das wünschenswert, fur den Fall der übrigen Anwesenden, angefangen von der hinter den Zeitungsstößen verschanzten Trafikantin (obenauf lagen, so schnell lief die Zeit, schon die Zeitungen von morgen) bis zu dem Straßenbahnkontrollor schwarze Uniform, Unform, mit glänzender Brustplakette-, der rücksichtslos aus der Tür drängte, während der hinter seiner Tochter zurückbleibende Vater hineinwollte, fand er das bedenklich bis empörend. Ihm, Stein jedenfalls, drang dieser Satz, durch den er sich in zweifacher Hinsicht betroffen fühlte, sowohl ins Gehirn als auch, meiner Seel, in die Seele.
Das hieß allerdings nicht, daß er, Stein, diesem Satz fürs erste etwas entgegengesetzt hätte, sei es Wort, sei es Tat. Vor allem um Marions willen, redete er sich ein, hätte er die Auseinandersetzung mit dem Betrunkenen, redete er sich ein, gescheut. Was ihm, sobald er das als Versäumnis begriff - also kaum hatte er das Mickymausheft bezahlt und war mit der Tochter, die jedenfalls nicht merkbar auf den Satz reagiert hatte, keine Fragen wie sonst, washeißtdasPapa, warumPapa, wieder draußen im Freien, unter dem de facto zwar verhangenen, aber im Prinzip heiteren Himmel Österreichs, unserer Republik Nr. 2 -, zu denken gab und zum Problem wurde. Gar nicht sehr weit von hier, sagte Clarissa, aber die lernte er erst später kennen, war das GESTAPO-Gebäude.
aus: Steins Paranoia.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1988, S 7ff.
Hamlet, Hiob, Heine
DORT WO ich wohnen möchte
wohne ich nicht
Dort wo ich liegen könnte
ohne zu lügen
Bei dir sein
hieße bei mir sein
und durchs geöffnete Fenster
klänge Lebendiges /
Hier ist es ratsam
das Fenster am Abend zu schließen
Unter einer Decke zu stecken
heißt zuallererst sich aneinander zu wärmen
In unseren Umarmungen
erkennen wir uns manchmal als Fremde
Auf die Straße geflohen
fallen wir unter potentielle Feinde
*
DORT WO ich wohnen möchte
wohne ich nicht
Dort wo ich liegen könnte
ohne zu lügen
Bei dir sein
hieße bei mir sein
durchs offene Fenster
klänge der Sommer
ab und zu
käme uns auch die Lust an
ins Freie zu treten
und draußen das Leben wäre eine Bewegung
an der man gern teilhat /
Hier ist es besser
das Fenster geschlossen zu halten
Nachts
würden wir uns verkühlen
und untertags
stehen die weißen Männer auf dem Gerüst
und verputzen die Fassade /
So kann es vorkommen daß deine Träume schlecht sind
Heute erzählst du
hast du vom Krieg geträumt
Von welchem frag ich
vom letzten oder
vom nächsten
Umarmungen
die uns gelingen
gelingen uns trotzdem
aus: Hamlet, Hiob, Heine. Gedichte.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1989, S 12 und 16f.
Vom Wunsch Indianer zu werden. Wie Franz Kafka ...
Er würde sehr schmal an der Reling stehen und kotzen. Der ältere Herr und die Dame würden sich ihm von achtern nahern. Der Wind würde wehen, die Wellen wurden wogen, die Möwen wurden lachen. Eine Sirene stieße einen klagenden Ton in den Abend.
Auf dem Vorschiff. Die beiden Herrschaften kämen aus dem inneren Zwischendeckbereich. Der Herr hätte der Dame durchaus zeigen wollen, wie er 1864 oder '65 gereist wäre. Wie er damals gereist wäre, wenn, wenn nicht ... Wenn ihn nicht gewisse Umstände daran gehindert hätten.
Sehr anders als heute wäre er damals gereist. Zwar sei die Unterbringung der Auswanderer, auf diese Feststellung hätte ein sogenannter Zwischendeckinspektor Wert gelegt, ohnehin schon viel besser, als, sagen wir, noch vor fünfzehn Jahren. Ganz zu schweigen von 1864 oder '65. Aber über den Zwischendecktransfer seien nach wie vor die schlimmsten Schauermärchen in Umlauf. Bitte, beachten Sie etwa die hygienischen Verhältnisse! Es mag sein, daß auch heute ein großer Teil der hier untergebrachten Passagiere in einem Bade eher eine ärztliche Verordnung erblickt, der man nicht entrinnen kann, als ein sozusagen zivilisiertes Bedürfnis. Aber die Zeiten, zu denen man die Auswanderer einfach mit dem Schlauch abgespritzt hat, sind vorbei. Wie Sie sehen, sind Wasch- und Badeeinrichtungen in, ich würde meinen, ausreichendem Ausmaß vorhanden. Auch, überzeugen Sie sich, Toilettenanlagen. Laut Gesetz vom 9. Juni 1897 müssen sie in einem Ausmaß zur Verfügung stehen, daß nicht mehr als fünfzig männliche beziehungsweise weibliche Personen sich im Gebrauch eines Abtritts arrangieren. Die Decken- und Kissenbezüge werden selbstverständlich nach jeder Reise desinfiziert. Sehen Sie, um das Geld, um das die Leute hier unten transportiert werden wollen, kann man natürlich keinen Luxuskomfort erwarten.
Natürlich nicht, hätte der ältere Herr gesagt. Die Dame hätte sich ein Ende ihres Seidenshawls vor Nase und Mund gehalten. Dieser Karbolgeruch sei nur schwer zu ertragen. Als sie aus den laut Auskunft des Zwischendeckinspektors mit 2200 Passagieren voll ausgelasteten Räumen hinaus unter den immerhin freien Himmel getreten wären, hätte übrigens auch der Herr an ihrer Seite aufgeatmet.
Aber da stünde der junge Mann an der Reling. Seine Haltung: die Charlie Chaplins am Anfang des Stummfilms THE IMMIGRANT. Extrem abgewinkelt. Er zappelt und windet sich in wüsten Konvulsionen. Ist dem nur schlecht, fragt die Dame, oder will er sich, Gott behüte, ins Meer stürzen?
Der Chaplin Film wird erst neun Jahre später gedreht. Aber jetzt muß man was tun, findet die Dame, man kann doch nicht einfach nur dastehen und zuschauen. Tu doch was, Karl! - Der ältere Herr blickt sich vorerst kurz um, schließlich wäre eigentlich das Schiffspersonal für so etwas zuständig. Aber den Zwischendeckinspektor haben sie irgendwo im Getümmel verloren, und auch sonst ist niemand von nur einigermaßen offiziellem Anschein in der Nähe.
Da gibt sich der ältere Herr einen deutlichen Ruck. Und tut zwei seinem Alter nicht mehr ganz gemäße Sprünge. Faßt den jungen Mann an der Schulter (na schön, vielleicht stützt er sich auch ein ganz klein wenig an dessen Schulter ab). Und: He, junger Mann, würde er sagen, passen Sie auf, beugen Sie sich nicht zu weit vor, da unten, das ist der Atlantik!
Als Chaplin, in diesem Film, sich endlich den Zuschauern zuwendet, hat er einen Fisch gefangen, und die Sorge, die man zuvor um ihn gehabt hat, entlädt sich in einem befreienden Lachen. Davon wird bei dem jungen Mann, der sich jetzt umdreht und alles hängen läßt, gewiß keine Rede sein. Lassen Sie mich, wird er antworten, sehr leise, sehr matt, sozusagen zu schwach für ein Rufzeichen nach dieser Aufforderung. Von vorn würde er übrigens eher aussehen wie Buster Keaton.
Außerdem sieht er ziemlich zerknittert aus. Obwohl oder gerade weil er, das fällt der Dame gleich auf, für einen Zwischendeckpassagier zu gut gekleidet ist. Auch seine Augen fallen ihr gleich auf, seine Ohren sind ohnehin nicht zu übersehen. Nehmen Sies nicht so schwer, sagt sie, nehmen Sie sich zusammen, sagt ihr Mann, hier, nehmen Sie mein Taschentuch.
Der junge Mann sagt danke und wischt sich ab. Dann steht er und schwankt. Was soll er nun mit dem Taschentuch, das nicht ihm gehört, anfangen? Sein Visavis hat weißes, vom Wind verblasenes Haar, etwas tränende, wasserblaue Augen und einen Schnauzbart, in dem Salzwassertröpfchen hängen. - Ist es die Möglichkeit? Sind Sie es wirklich? - Nein, der junge Mann würde den älteren Herrn nicht erkennen.
Aber die Möglichkeit, doch, die Möglichkeit ist es. Dieses Zusammentreffen der zwei (der drei). Man schreibt das Jahr 1908, und zwar den 6. September. DER GROSSE KURFÜRST ist am Abend des 5. in Bremerhaven ausgelaufen und wird am frühen Morgen des 16. in New York sein.
aus: Vom Wunsch, Indianer zu werden.
Wie Franz Kafka Karl May traf
und trotzdem nicht in Amerika landete.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1994, S 7ff.
Kommt eh der Komet
Sie ist ja, sagt Scheck, nicht von sich aus so, seine Peppi. Sondern durch ihre Eltern. Sie ist halt ein typisches Produkt von Anlage & Umwelt. Ihre Eltern aber leiden beide unter dementia securitatis, zu deutsch Sicherheitsblödsinn. Sieben Sicherheitsschlösser, drei Sicherheitsriegel, jede Menge Versicherungspolizzen.
Weil man nämlich nicht weiß, was alles kommt. Aber man kann sich denken, was kommen könnte. Glasbruch, um nur ein einfaches Beispiel zu nennen. Glück & Glas, wie leicht bricht das - aber von Glück will Scheck in diesem Zusammenhang gar nicht reden.
Sondern von simplem Glasbruch. Etwas Gläsernes zerbricht. Da ist es gut, wenn eine Versicherung den Schaden ersetzt. Aber so einfach ist das nicht. Es gibt subtile Unterschiede zwischen Zerbrechen und Zerbrechen. Zum Beispiel, wenn Wind im Spiel war. Oder wenn ein Kind im Spiel war. Oder wenn ein Hund im Spiel war.
Haben Sie eine Windversicherung? Um wessen Kind hat es sich gehandelt? War das Kind versichert? - War der Hund versichert? Warum war der Hund nicht an der Leine? - Die Versicherungsgesellschaft, der Versicherungsagent, sie meinen es gut mit dir. Aber im Falle eines Falles kann sich herausstellen, daß dieser besondere Fall gar kein allgemeiner Versicherungsfall war.
Da brauchst du eine Zusatzversicherung. Da kannst du zum Beispiel eine Windversicherung abschließen. - Ja, aber was, wenn es sich um einen Sturm oder gar um einen Orkan handelt? - Ganz zu schweigen von Erdstößen oder richtigen Erdbeben! - Das solltest du alles bedenken, das mußt du dir rechtzeitig überlegen.
Kurz - wenn man einmal damit anfängt, sich gegen irgend etwas versichern zu lassen, kann man gar nicht mehr damit aufhören. Man weiß nicht, was alles kommt. Wer weiß, was einem zustößt. Oder doch: Eines weiß man genau: Irgendwann wird es mit all dem aus sein. Aber auch und vor allem für diesen Fall muß man als verantwortungsbewußter Mensch natürlich vorsorgen.
Oh doch, es mag Leute geben, die leben einfach in den Tag hinein, und eines Tages fallen sie um und sind tot und fallen ihren Nachkommen zur Last. Oder der öffentlichen Hand, die dann für die Begräbniskosten aufkommen muß, oder zumindest der Müllabfuhr. Aber mit solchen Menschen wollen anständige und verantwortungsbewußte Menschen nichts zu tun haben. - Peppis Eltern waren sehr anständige und verantwortungsbewußte Menschen.
So anständig, so verantwortungsbewußt waren sie, daß sie ihre Tochter, kaum daß das arme Hascherl auf der Welt war, schon einschreiben lassen haben in einen sogenannten Sterbeverein. Zum ersten Geburtstag haben sie ihr eine Sterbevereinspolizze gekauft, da wird sich das kleine Scheißerl aber gefreut haben. Patsch Handi zsamm, patsch Handi zsamm! Oh doch, eine Torte mit einer einzigen Kerze in der Mitte hat sie damals auch gekriegt. Das ist auf einem Foto im Familienalbum zu sehen, aber es gibt Geschenke, die vergehen, und es gibt Geschenke, die bleiben.
Zumindest ein Leben lang. So ein Geschenk ist die Sterbevereinspolizze. Natürlich hat das die Peppi damals noch nicht verstehen können, drum hat man die Sterbevereinspolizze in eine schöne, schwarze Mappe gelegt und für sie aufbewahrt. Aber sobald sie alt genug war, hat man ihr das erklären können. Sie war Mitglied bei einem Verein, und zwar bei einer Art Sparverein für das eigene Begräbnis, vorläufig zahlten ihre lieben Eltern den Mitgliedsbeitrag, aber sobald sie einmal groß sein würde, würde sie ihn selbst zahlen.
Scheck weiß das. Er hat einmal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, von Peppis Eltern zum Essen eingeladen zu werden.
Wir wollen doch wissen, hat Peppis Vater gesagt, wer der junge Mann ist, mit dem unsere Tochter ihre Zukunft plant.
Sie heißen also Scheck. Sie arbeiten in derselben Bank wie Peppi. Sie hat viel von Ihnen erzählt.
Aber sagen Sie: Welche Sicherheiten können Sie unserer Tochter bieten?
Bis hierher würde Scheck erzählen, aber an dieser Stelle könnte er nicht anders, er müßte das LIED VON DER SICHERHEIT singen.
Er hat nämlich auch etwas Musikalisches: Eine Zeitlang hat er sogar in einer Band gespielt.
Das ist allerdings noch vor der Matura gewesen.
Wenn man reif ist und der Ernst des Lebens beginnt, geht es mit solchen Spielereien meistens zu Ende.
Er hat halt gesungen und auf der Gitarre geklimpert.
Ja, und ab und zu ist ihm sogar ein eigenes Lied eingefallen.
Kaum hat er bei der Bank zu arbeiten angefangen, haben diese Einfälle aufgehört.
Aber jetzt, als er so auf der Straße gestanden ist, also da sind ihm, nach Jahren zum ersten Mal wieder, ein paar Takte Musik und die dazu passenden Worte in den Sinn gekommen.
So auf der Straße stehend und wartend, hat man ja eine ganze Menge Zeit zum Nachdenken.
Er hat Wien fluchtartig verlassen. Das heißt Wien und die Peppi, die ihn mit seinen von ihrer Norm abweichenden Auffassungen ohnehin nicht mehr gemocht hat -
Wien und die Peppi hat er verlassen; natürlich auch die Bank -
So auf der Straße stehend und wartend ist ihm bewußt geworden, vor was allem davonzufahren er jetzt eigentlich im Begriff war.
Vor Wien, vor der Peppi, der Bank und dem Sterbeverein -
Ja, auch und vor allem vor dem Sterbeverein hat er davonzufahren versucht, das ist ihm mit jedem Kilometer, den er, so on the road, hinter sich gebracht hat, klarer geworden -
Das Phantom dieses skurrilen Vereins ist die ganze Zeit in seinem Kopf herumgespukt -
Und je mehr er darüber nachgedacht hat, desto unglaublichere Dimensionen hat es für ihn angenommen.
Einerseits ist es ja wirklich komisch, nichtwahr -
Es gibt Fußballvereine, Gesangsvereine, Sparvereine, Kleingärtnervereine -
Tritt man denen bei, so will man naturlich fußballspielen, singen, sparen, kleingärtnern -
Warum ist man beim Sterbeverein? Weil man - und sei es auch insgeheim - sterben will?!
Das klingt wie ein böser Witz - aber anderseits: wer weiß? -
Schön, hat sich Scheck überlegt, er ist ja kein Mitglied -
Aber: Muß man diesem Verein überhaupt beitreten? Ist man nicht auch ohne Polizzen, durch eine Art von Zwangsmitgliedschaft, von Anfang an dabei? -
Ist dieser Sterbeverein nicht so etwas wie ein im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich gut organisierter Geheimbund, eine morbide Mafia, die, dem Wesen einer solchen Organisation entsprechend, alle Lebensbereiche durchsetzt und durchnetzt, und im Grund genommen ist alles, von der Geburtsklinik bis zum Altersheim, ist jede lebenserhaltende & -gestaltende Tätigkeit, nur Tarnung & & Täuschung, denn was dahintersteht, was jeder kennt, aber keiner nennt, ist die Cosa Nostra einer letzten Endes unausweichlichen Sterbevereinsmeierei?!
Das wars, was ihn eigentlich dauernd beschäftigt hat.
Ich will nicht sterben, hat er die ganze Zeit über gedacht, nein, ich will nicht sterben!
Und wenn es auch wirklich eine geheime Zwangsmitgliedschaft bei diesem Scheißsterbeverein geben sollte -
Um freiwillig in diese Mitgliedschaft einzuwilligen, also dazu hab ich noch viel zu wenig gelebt.
aus: Kommt eh der Komet. Eine Erzählung.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1995, S.32ff.
Morrisons Versteck
Ich habe Jim Morrison, sagte er, nie leiden können.
Diese provokant langweilige Stimme, dieses unverschämt leere Gesicht, dieser lächerlich laszive Körper!
Diese mißglückte Nachgeburt Elvis Presleys!
Wie der zum Idol werden konnte, ist mir ein Rätsel!
Wenn ich ihn damals, so zwischen '68 und '70, kaum hab ich am Morgen das Radio aufgedreht, gleich habe hören müssen, war mir der ganze Tag vermiest.
Noch unerträglicher als Morrisons Organ war mir nur die Instrumentalbegleitung der DOORS.
Ray Manzareks ödes Orgelgedudel, John Densmores phantasieloses Schlagzeuggehämmer, zu Robby Kriegers Gitarrengewürge fällt mir nicht einmal ein Adjektiv ein ...
Sagte Morgenrot, aber der weiß nicht, wovon er redet, schrieb Petra.
In diesem Park dort: Warum hatte sie ihn bloß angesprochen?
Aber sie hatte ihn gar nicht angesprochen. Erinnern wir uns genau, wie es gewesen ist.
Also, wie war es?
Er hatte sich ihr gezeigt.
Er hatte sich ihr gezeigt, und sie hatte ihn fotografiert.
Geistesgegenwärtig. In unerwarteter Gegenwart eines mutmaßlichen Geistes.
Aber nein: Sie hätte ihn keinen Augenblick für einen Geist gehalten.
Was man so Geist nennt. Ghost oder spirit. Wer glaubt schon an so was?
In immer noch aufgeklärten Zeiten wie diesen.
Außerdem würde ein Geist nicht derart erscheinen.
Wie? Darauf ging sie vorerst nicht näher ein.
Seine Art zu sprechen, immer noch die Billy the Kids, den er nie gespielt hat.
Plante eine Filmfassung von Mike Mc Clures Stück THE BEARD, dieser Producer, wie hieß er doch gleich, Eliot Kistner, nein Kastner, a german name, ist aber nichts draus geworden, haben zuviel gesoffen und drüber den Film vergessen, damals in London.
The Beard, der Bart - er brauchte sich nicht dahinter zu verstecken, ihr konnte er nichts vormachen. Noch dazu, wo er doch einen Bart, einen gepflegten, weniger filzigen zwar, im charismatisch bis melancholisch blickenden Antlitz getragen hatte, auf vorletzten Fotos. Obgleich man ihn anders in Erinnerung behalten hat: die Büste auf seinem Grab, von idealisierender Glätte. Wie Jacques Louis Davids Napoleon. Jung Jim allerdings, berichten die Biographen, schätzte eher Alexander.
Du schreibst eine Biographie? sagte Morgenrot. Nein!
Einen Roman? Nein, einen Roman erst recht nicht!
Kann man überhaupt? Kann man heute noch? Kann man heute schon wieder?
So etwas schreiben? Wenn man nicht völlig naiv ist?
Was sollte ich sagen? Die Wahrheit? Die volle Wahrheit?
Unmöglich. Die hätte mir Morgenrot nie geglaubt.
Oder er hätte mich schlicht für verrückt gehalten.
Ein Alibi also. Und sei es ein narratives.
Biographien. Ein alter Hut. Spätestens seit Plutarch.
Den las er. Jung Jim. Eine recht ungewöhnliche Lektüre für einen werdenden Rockstar.
Aber ein typischer Rockstar war er auch kaum.
Auf diese Feststellung legte er nach wie vor Wert.
Seine Art zu lachen, noch immer die eines sadomasochistischen Riesenbabys, ganz und gar zahnlos.
Nein, Lady, Sie irren, hier hinten hab ich noch einige Zähne!
Das alles natürlich auf englisch, nein, amerikanisch.
Trotz des französischen, italienischen, spanischen, griechischen, arabischen oder, God knows, was für eines verfickten Akzents.
Fucking. Hard to translate. Wirklich, ein Geist würde so nicht reden.
Und ein Geist, damit fängt die Geschichte an, würde so nicht auftreten.
Wie? Na, du weißt schon. So sich entblößend, obszön.
Liebe Lady, was wissen denn Sie, was obszön ist?
Der Vater: Ein Karrierist in der US-Army.
Pearl Harbour 1941. Im Zeitraffer geheiratet. Rasch bevor Steves Minenleger wieder aus dem Trockendock heraus mußte.
Die Mutter (Clara): Besuchte ihre schwangere Schwester in Hawaii, das hätte sie lieber nicht tun sollen.
Das beste ist, nicht geboren zu werden, das zweitbeste, möglichst bald zu sterben.
On December 8, 1943, James Douglas Morrison joined the wartime baby-boom, so ein haarsträubender Blödsinn!
I joined nothing. Ich bin überhaupt nicht gefragt worden!
Wie kommt man dazu: eine Seele, herumflanierend, free & easy, in so was hineingezogen, hineingesogen zu werden: eine American-way-of-life-Umarmung?!
Und dann aufzuwachen in Melbourne, Florida, near what is now Cape Canaveral: Da kannst du tatsächlich nur schreien, bis dir der Kopf rot wird!
J im's father left him at six months to go back to the Pacific to fly Hellcats - wäre er doch gleich zur Hölle gefahren!
Die nächsten drei Jahre putzteufelte die Mutter in Clearwater, Florida, das hieße weit treffender Aqua Destillata.
Noch cleaner als sie waren nur meine Großeltern, Queen Victoria und ihr vertrocknender Prinzgemahl.
Rauchen: verboten; trinken: verpönt; Sex: völlig indiskutabel - mein Dad ist, das sieht ihm ähnlich, durch Knospung entstanden.
Obszön oder nicht obszön: Sie war jedenfalls nur mäßig an dem Teil interessiert, den er ihr zeigen wollte.
Vielmehr an dem, was er vor ihr zu verbergen versuchte, sich von ihr abwendend, zurück ins Gebüsch fliehend, kaum hatte sie die Kamera gezückt: seinem Gesicht.
Etwas in diesem Gesicht, schrieb sie, sei ihr gleich im ersten Augenblick bekannt vorgekommen.
Darum habe sie auch schon im nächsten Augenblick durch den Sucher geschaut und den Finger gekrümmt und abgedrückt.
Sie dürfen mir nicht in die Augen sehen und mit dem Kamera-Auge schon gar nicht.
The sniper's rifle is an extension of his eye. He kills with injurious vision.
(James Douglas Morrison: THE LORDS & THE NEW CREATURES, Simon a Schuster, New York 1971).
Pan hinter der Nymphe her / die Nymphe hinter Pan her, so ändern sich die Zeiten.
aus: Morrisons Versteck. Neue überarbeitete Ausgabe.
dtv, München 2001, S 9ff.
Schwarzer Peter
Sie werden lachen, aber ich komme aus Wien. Auch wenn ich möglicherweise nicht ganz so aussehe. Vienna. Austria. Europe. Ob Sie es glauben oder nicht. Ich bin dort geboren und habe meine ersten dreißig Jahre dort verbracht.
An der schönen, blauen Donau? Das weniger. Also erstens ist die Donau gar nicht blau. Und zweitens fließt sie ja eher an Wien vorbei. Den Donauwalzer werden Sie von mir also nicht zu hören bekommen. Seien Sie mir nicht böse, aber das ist nicht meine Musik.
Was wirklich durch Wien fließt, ist der Donaukanal. Der kleinere, ordinärere Bruder der Donau. Er nimmt seinen Weg von der Nußdorfer Schleuse, wo er sehr bewußt aus der Donau entlassen wird, bis zum sogenannten Praterspitz, wo er, schon fast vergessen, in sie zurückkehrt. Über diesen Donaukanal würde kein Mensch einen Walzer schreiben.
Allerdings gibt es ein Wienerlied, in dem von einer schrägen Wiese am Donaukanal die Rede ist. Es geht ungefähr so - hören Sie - die Blue Notes sind meine persönliche Note. In meiner Kindheit habe ich mir eingebildet, daß ich auf so einer schrägen Wiese gezeugt worden bin. Gewisse Andeutungen meiner Mutter und ihre Vorliebe für eine bestimmte, vor den Blicken Vorübergehender durch besonders dicht wucherndes Gebüsch geschützte Stelle haben mich auf diese Idee gebracht.
Auch mich hat es immer wieder dorthin gezogen. In einer meiner frühesten Erinnerungen sehe ich mich einige Meter unter dieser Stelle am Ufer sitzen, ein Spielzeugschiff, das stromabwärts will, am Bindfaden. Das Schiff ist aus Holz, roh geschnitzt, ungefähr zwanzig Zentimeter lang, unlackiert. Je eine kleine Bank an der Bug- und an der Heckseite, in der Mitte ein kleines, mit einem Fetzchen alten Leintuchs bespanntes Segel.
Der Bindfaden aber ist ein Papierspagat. Richtige Hanfschnüre waren in den kargen Jahren nach dem Krieg eine Seltenheit. Und so ein Papierspagat weicht sich im Wasser auf. Das weiß ich seit damals, ich war ungefähr fünf Jahre alt, durch Schaden wird man klug.
Der Papierspagat also weicht sich auf, gleich wird es so weit sein. Ich sitze am Donaukanal, auf einer schrägen Wiese an der Erdberger Lände. Ziemlich weit unten, dort wo das gelbe Gras aufhört und die grauen Kiesel anfangen. Und jetzt ist es so weit: das Ende der Schnur, die ich in der Hand halte, schlängelt sich wie ein blasser Wurm im erbssuppenfarbenen Wasser, und das Holzschiffchen fährt, für mein Auge kleiner und kleiner werdend, davon.
Ich kann diese Szene auch rückwärts laufen lassen. Das Holzschiffchen schwimmt dann stromaufwärts, und der Spagat wächst an der aufgeweichten Stelle wieder zusammen. Aber nur mit dem Ergebnis, daß es wieder passiert. Unversehens schlängelt sich das Ende der Schnur, des Papierspagats, im Wasser, unversehens ist die zuvor durch den Zug der Strömung verursachte Spannung weg, und das Holzschiffchen, mein Holzschiffchen, fährt davon, für mein Auge immer schwerer erkennbar, bis ich nicht mehr genau weiß, ob ich es noch sehe oder nur an einer bestimmten Stelle, an der es schon im nächsten Augenblick nicht mehr sein kann, vermute, denn der Fluß, der es mir weggenommen hat, fließt mit rascher, in meiner Erinnerung sogar heftiger Strömung, auch wenn es sich nur um den Donaukanal und nicht um die aus Unterscheidungsgründen in Wien so bezeichnete Große Donau handelt.
Natürlich ist nicht auszuschließen, daß mein Schiff in die Große Donau geraten ist. Am Donaukanalufer scheint es, obwohl dort viele Sträucher ihre Zweige mit mattsilbernen Blättern ins Wasser tauchten, so weit ich stromabwärts gesucht habe, jedenfalls nicht hängengeblieben zu sein. Nach dieser vergeblichen Suche waren meine Beine von Brennesseln verbrannt, von Socken, Hose und Hemd pflückte meine Mutter, als ich verweint nach Hause kam, ganze Klumpen von Kletten. Schneuz dich, sagte sie, wenn dein Schiff unten, am Praterspitz, in die Donau geschwommen ist, so ist es jetzt unterwegs ins Schwarze Meer.
Damals hatte ich vom Schwarzen Meer noch keine durch geographische Schulkenntnisse verdorbene Idee. Daß meine Mutter das Schiffchen, an dem meine Seele hing, in einem schwarzen Meer landen lassen wollte, schien mir indes nicht unpassend. Vage stellte ich mir vor, das Schwarze Meer sei in Afrika. Und von dort, aus einem großen Teich, kamen, so hatte mir die Großmutter erzählt, zwar alle Kinder, aber solche wie ich besonders.
aus: Schwarzer Peter.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2000, S 7f.
Black Peter's Songbook
Was Black Peter zur einleitenden Klarstellung seiner Herkunft äußern könnte
1
My pretty mama was a streetcar conductor
yeah my pretty mama was a streetcar conductor
My unknown father was a soldier when he fucked her
It happened far away and long ago
yeah it happened far away and long ago
in an old European town you might not know
Then he was gone beyond the big Atlantic Sea
yes he was gone beyond the big Atlantic Sea
Don't know if he knew that she gave birth to me
2
When I grew up
I asked my Ma
to tell me something
about my Pa/
She told me he was
a tall black guy
who just passed by
She told me he was
a gentle guy
but nevertheless
he just passed by/
She did not tell me
his name and address
I had to guess
I had to guess
his origin
Mei Muatterl woar
a Weanerin
My father went back
to his dirty land
I just wasn't planned
They fell in love
I fell in life
He did not take her
with him as his wife
That's life, so what
she did not cry
baba. bye-bye
aus: Black Peter's Songbook.
ORF und Residenz Verlag. Salzburg, Wien, Frankfurt 2100, S 15f.
Die kleine Figur meines Vaters
Ich hatte die Kriegsbilder meines Vaters schon als Kind zahllose Male betrachtet. Zwar war ich überhaupt umgeben von Bildern aufgewachsen, aber unter all diesen Bildern spielten die Kriegsbilder eine besondere Rolle. Betrachtete ich als Kind die Kriegsbilder meines Vaters, so mußte ich aufpassen, daß ich nicht in sie hineingeriet. War ich einmal in den Kriegsbildern meines Vaters drin, so kam ich nur schwer wieder aus ihnen heraus.
Wohl waren sie, wie meine Mutter immer wieder betonte, wenn sie mich über ihnen ertappte, NICHTS FÜR KINDER, aber meine Neugier, gekoppelt mit Papas Fotografenstolz, entkräftete diesen Einwand. Besonders in den großen, schweren, mit KRIEG RUSSLAND beschrifteten Alben blätterte ich noch lieber als im WILHELM BUSCH. Bist du da wirklich dabeigewesen, fragte ich dann oft, auf dieses oder jenes Bild zeigend, meinen Vater. Und der nickte und antwortete: Ja, da ist dein Papa überall dabeigewesen.
Ähnlich wie mit den Kriegsbildern meines Vaters verhielt es sich mit den dazugehörigen Geschichten. Auch diese Geschichten hatte ich als Kind schon zahllose Male gehört. Zu seinem Geburtstag, zu Weihnachten, zu Silvester, zu sämtlichen Anlässen, bei denen Besuch da war, kramte mein Vater diese Geschichten wieder aus. Vor allem um dieser Geschichten willen hatte ich mich auf seinen Geburtstag, auf Weihnachten, auf Silvester etc. gefreut.
Seine Erzählung vom Anfang des RUSSLANDFELDZUGS. Die Mimik, die Gestik, der Tonfall, die Atmosphäre. Wie er sich die Pfeife anzündete, wie die Zündholzflamme sein Gesicht beleuchtete. Der maskuline Ausdruck um seine Mundwinkel.
Mein Vater, der Mann, der DABEIGEWESEN war. Immer an der richtigen Stelle, immer im entscheidenden Augenblick. Im Juni 1941, bei der Heeresgruppe Mitte. Wenn einer einen Krieg erlebt, so kann er was erzählen.
Er begann mit der Nacht vor dem Überfall -:
Es war die längste Nacht des gesamten Krieges. Erst im letzten Moment kam der Angriffsbefehl. Wir lagen eingegraben knapp vor der Grenze ...
Die Sätze, die er für diese Geschichte verwendete. Im Strom wiederholter Erzählung glatt geschliffen. So lang ich ein Kind war, imponierten sie mir. Erst später wurden mir diese Sätze verdächtig.
Gekonnt, wie mein Vater diese Erzählung aufbaute. Kurze Rückblende auf vergangene Tage. Die Patrouillen an der Grenze, auf der einen Seite Deutsche, auf der anderen Russen. Man versteht zwar nur ein paar Brocken der jeweils anderen Sprache, aber man könnte sich verstehen. Man lacht. Man trinkt. Auf der einen Seite Bier, auf der anderen Seite Wodka. Man prostet einander zu. Man wirft Flaschen über den Stacheldraht. Menschen hüben wie drüben. Man könnte sich verbrüdern. Es liegt aber was in der Luft, es ist etwas geplant ...
Nach eins, halbzwei verstummen die letzten Stimmen. Diese Stille unter dem Sternenhimmel. Sternschnuppen fallen. Man kommt auf die Idee, sich was zu wünschen. Man denkt an die Lieben daheim. Man kommt in Versuchung zu beten.
Dann zieht eine erste graue Helligkeit auf. Blick durchs Fernglas. Drüben die Russenpatrouille. Junge Gesichter. Bestürzend ahnungslos. Bauern kommen aufs Feld. Rauch steigt aus einem Schornstein. Und dann, mit der Sonne, bricht plötzlich die Hölle los. Die ganze Front entlang schießt die Artillerie. Gleichzeitig heulen Schwärme von Stukas heran. Die Gegend versinkt im Gewitter der Detonationen.
Erzählte meine Vater. Erzählte er wieder und wieder.
Nach fünfzehn Minuten wird das Feuer verlegt. Das heißt, man zielt jetzt weiter ins Hinterland. Inzwischen erfolgt der Vorstoß der Panzerkeile.
Und hinter den Panzern stürmt die Infanterie.
Wir treffen, erzählt er, zuerst auf blankes Entsetzen. Soldaten fliehen in Panik, Verwundete schreien. Wie irr im Kreis herum laufen Frauen und Kinder.
Häuser brennen. Balken stürzen herab. Verängstigte Tiere brechen aus Ställen aus. Die Äcker sind ganz von Bombentreffern zerwühlt. Manchmal liegen zerfetzte Körper im Weg.
Du nimmst das, erzählt mein Vater, nur halb und halb wahr. Im ersten Ansturm gibt es kein Stehenbleiben. Kein Innehalten und Sehen. Sturm vorwärts, heißt es. Da gibt es auch kein richtiges Fotografieren.
Und trotzdem: gewisse Bilder bleiben im Kopf. Zum Beispiel das Bild einer alten, verängstigten Frau. Die hält den Stiefel eines Soldaten umfaßt. Aber der Stiefel tritt sie einfach beiseite.
Oder das Bild eines angeschossenen Hundes. Sein Hinterleib ist zerfetzt, er schleift ihn nach. Und dann bleibt er liegen und schaut nur, liegt nur und schaut. Gewisse Bilder wirst du nie wieder los.
Aber, sagte mein Vater, wir waren im VORMARSCH. Das war nach wie vor und erst recht ein großes Gefühl. Da durfte man nicht kleinmütig werden, nicht zaghaft zurückschauen. Gerade jetzt kam es darauf an, daß man stark und hart war.
Ja, stark und hart auch gegen die eigene Schwäche. Der Krieg, das war klar, hatte jetzt eine andere Dimension. Auch für mich, sagte mein Vater, das mußt du dir vor Augen halten. Rußland, das war etwas anderes als Polen und Frankreich.
Ich war jetzt nicht mehr als Fotograf bei dieser oder jener Einheit, sondern bei der PROPAGANDAKOMPANIE. Der richtige Platz für mich. Kein Platz für Zweifel. Es ging doch vorwärts. Und wie! Binnen zehn Tagen hatten wir die Beresina erreicht. In den folgenden Wochen sind wir auf Minsk und Smolensk vorgestoßen.
aus: Die kleine Figur meines Vaters.
Neu überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Residenz Verlag, Salzburg, Wien, Frankfurt 2003, S 83ff.