Peter Henisch: das bin doch nicht ich
Wie lang waren Sie eigentlich in Amerika? fragt mich die Frau S., bei der ich meinen Frühstückskaffee trinke.
In den Vereinigten Staaten meinen Sie? Nun ja, da war ich drei Mal auf Lesereise.
Aber Sie waren doch als Literaturprofessor dort, sagt sie, Sie haben doch an einem College unterrichtet ...
Liebe Frau S., sage ich, das war nicht ich, das war Paul Spielmann.
Und das sind nicht Sie? fragt sie.
Nein, sage ich, das ist der Erzähler.
Also eigentlich doch Sie, sagt sie.
Nein, sage ich, eigentlich nicht. Auch wenn mir dieser Typ vielleicht ein bißchen ähnlich sieht, sollten sSie uns zwei nicht verwechseln.
Das fällt mir schwer, sagt sie. Wenn so ein Autor ICH schreibt, dann denke ich, es handelt sich um ihn.
Ich hebe an, etwas zu erklären, aber da betritt ein anderer Frühstücksgast den Raum. Und während die Frau S. sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht, fällt mir mein Gastspiel an der Uni in New York ein. Wie ein Student auf mich zutritt, noch vor der Lesung. Und mich fragt, ob ich tatsächlich der Autor bin, der aus dem Buch Schwarzer Peter lesen soll: I thought, you are black.
So was kann also passieren, werde ich zu Frau S. sagen, wenn sie wieder an meinen Tisch zurückkehrt. Und zwar nicht nur in Amerika, wo ich, ich geb es ja zu, nicht ganz so bekannt bin. Nein, auch im eigenen Land ist mir das schon widerfahren. Zum Beispiel vor ein paar Jahren im Burgenland.
Und dann könnte ich erzählen, wie ich damals, im Jahr 2000 muß das gewesen sein, in Mattersburg gelesen habe, ja, ich glaube es war Mattersburg. Immerhin ein Autor, von dem das Programmheft behauptete, daß er zu den bekanntesten in Österreich gehöre. Und zwar, stand da zu lesen, vor allem aufgrund des Buchs über meinen Vater, den Pressefotografen Walter Henisch. Peter Henisch, der heute Abend aus seinem Buch Schwarzer Peter lesen wird, hatte die Burgenlandausgabe des Kurier nichtsdestotrotz geschrieben, ist im Jahr 1947 als Sohn einer Wiener Straßenbahnschaffnerin und eines schwarzen Besatzungssoldaten geboren.
Das kommt davon, sagt die Frau S, wenn man einmal, wie heißt das? - authentisch schreiben will und dann wieder nicht. Wie sollen sich denn die einfachen Leute da auskennen? Wenn ich lese, was dieser Manesse oder wie er heißt, also was der treibt mit seinen Chilischoten! Aber so was les ich erst gar nicht. Sagen Sie, ist das am End der Bruder von der berühmten Schwester?
Übrigens, sage ich, um wieder auf mich zurückzukommen, ist dieses Mißverständnis damals sogar einer Fernsehjournalistin unterlaufen. Nicht irgendeiner, sondern einer, die mich seit Jahren gekannt hat. Die hat mich angerufen, kurz nachdem das Buch Schwarzer Peter erschienen war. Das hab ich ja gar nicht gewußt! hat sie mit etwas belegter Stimme gesagt, na ja, das ist eine etwas heikle Herkunft - aber würdest du in unserer Sendung darüber reden? - Wie bitte? Ich hab zuerst gar nicht kapiert, was sie meint. Ja, aber so ist das, liebe Frau S., auch sie hat mich mit meinem Protagonisten verwechselt.
Mit wem? fragt die Frau S..
Er heißt Peter Jarosch, sage ich.
Jetzt bringens mich nicht durcheinander, sagt die Frau S. mit Ihren vielen Namen!
Es gibt halt Figuren, sage ich, in deren Haut man schlüpft. Das kann die Haut eines etwas dunkler pigmentierten Besatzungskindes sein, aber auch die Haut eines in die Krise geratenen Rundfunkmitarbeiters ...
Ah ja, der, sagt die Frau S., das Büchel, in dem der auf und davon fährt, hab ich grad erst angefangen. Aber dieser verrückte Kerl hat ja auch was von Ihnen, Sie fahren doch öfter nach Italien, und Führerschein, das hat mir Ihre Freundin gesagt, haben Sie auch keinen!
Ja, sage ich, und immer wenn ich durchdreh und mich trotzdem ans Steuer setz, am liebsten natürlich in einem gestohlenen Auto, entführ ich eine Gymnasiastin. Nein, aber das würde vielleicht doch nicht so gut ankommen. Schon gar nicht bei den Lehrerinnen, die jetzt eingetreten sind, anscheinend ist in der Schule um die Ecke große Pause. Vielleicht sollte ich doch etwas seriöser argumentieren. Als Frühstückskaffeeliterat hat man eine gewisse Verantwortung.
Etwa so: In der Lyrik gibt es das poetische Ich und in der Prosa das prosaische, damit arbeiten wir Autoren halt manchmal. Wenn Goethe Ich schreibt meint er ebensowenig ganz einfach sich selbst wie Karl May. Oder ebensosehr. Das kommt darauf an ...
Ja? Worauf kommt es an, könnte die Frau S. fragen.
Auf gewisse Diskussionen soll man sich vielleicht besser nicht einlassen.
Vielleicht würde mir Rimbaud aus der Verlegenheit helfen. Je est un autre oder so.
Wie bitte? fragt die Frau S.
Ich ist ein anderer. So ein Satz muß einem erst einmal einfallen.
Aber ist das nicht ein Versteckspiel? fragt die Frau S.
Schon, sage ich, ein Spiel ist es immer, auch wenn es manchmal unser Ernst ist. Bisweilen geht es um Leben und Tod, zum Beispiel in Venedig.
Donna Leon, sagt Frau S. Die les ich ganz gern. In ihren Büchern ist es nicht so kalt wie in denen von Mankell.
Ich versuche beim Thema zu bleiben. Das wirkliche Ich der Autorin oder des Autors ...
Na, was ist damit? fragt die Frau S.
Nun, vielleicht ist es nicht ganz so wichtig.
Keine falsche Bescheidenheit, sagt die Frau S. Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Auch wahr, könnte ich sagen. Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden? Ich bin wahrscheinlich der einzige Autor, der bisher zwei Mal auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis gestanden ist. Leider standen dann jeweils andere auf der Shortlist. Davon ausgehend würden andere gleich ein neues Buch schreiben, wenn nicht sogar zwei.
Ach was, könnte Frau S. mich trösten, alle guten Dinge sind drei. Beim nächsten Mal klappt es vielleicht. Und dann kriegen Sie ein Glas Sekt zum Frühstück. Außerdem muß es ja auch so ganz schön sein, wenn man ab und zu in der Zeitung abgebildelt ist und einen die Leute kennen.
Wissen Sie was? sage ich. Dazu fallen mir drei Geschichten ein.
Erste Geschichte: Vor ein paar Jahren gab es den ersten gesamtösterreichischen Schriftstellerkongreß im Wiener Rathaus. Wer dazu eingeladen war, hat per Post ein Ansteckschild mit seinem Namen zugeschickt gekriegt. Dieses Ansteckschild hab ich entweder vergessen oder nicht ernst genommen. Also jedenfalls komm ich zum Rathaus, und da läßt mich der Polizist, der dort am Tor steht, nicht eintreten.
Ihr Namensschild! sagt er.
Das hab ich zu Hause, sage ich.
Das kann ein jeder sagen, sagt er. Steht da wie der Torwächter bei Kafka. Vor dem Gesetz. Eine richtige Amtsperson. Ohne Namensschild kommen Sie da nicht rein!
Ich hab damals nicht weit vom Rathaus gewohnt, also bin ich nach Haus und hab das Namensschild in einem Couvert unter der abgelegten Post gefunden. Aber dann, in einer Anwandlung romantischer Ironie, habe ich das Stück Papier mit meinem eigenen Namen heraus genommen und auf die Rückseite E.T.A. Hoffmann geschrieben. Mit dem Schild am Revers bin ich dann zehn Minuten später wieder vor dem Polizisten gestanden. Na also! hat er gesagt. Warum denn nicht gleich?
Zweite Geschichte: Einmal bin ich im Zug zu einer Lesung nach Salzburg gefahren. Ich habe in meinem Gedichtband Hamlet, Hiob, Heine geblättert und Zettel eingelegt.. Mir visavis ist eine junge Frau gesessen, die hat mich gefragt, was ich da tu. Sehen Sie, hab ich gesagt, ich bin ein Autor und lese heute Abend aus diesem Buch, da lege ich Zettel ein, damit ich die richtigen Gedichte finde.
Na so was, hat sie gesagt, Sie sind also ein richtiger Dichter! Sie hat sich dann meinen Namen und den Namen des Buchs aufgeschrieben. Zwei oder drei Wochen später treff ich auf der Josefstädterstraße eine junge Person, die mir erst zuwinkt und mir dann den Weg vertritt. Erinnern Sie sich nicht? sagt Sie. Wir kennen uns aus dem Zug. Sie sind doch der Herr Heine!
Dritte Geschichte: Ich gehe durch die Kärntnerstraße und spüre plötzlich ein dringendes Bedürfnis. In einer Seitengasse gibt es ein Wienerwald-Restaurant. Ich gehe einfach durch die Gaststube und will stracks auf die Toilette. Leider gelingt mir das nicht ganz unbemerkt, als ich an einem Kellner vorbeikomme, sieht er mich auf eigentümliche Art an. Das ist etwas peinlich. Als ich wieder aus der Toilette heraus komme, steht der Kellner mit einem zweiten vor der Tür. Will er mich zur Rede stellen? Nein, er hat einen Kassablock in der Hand und bittet um ein Autogramm. Na schön, ich schreibe rasch meinen Namen hin, die Situation ist mir nach wie vor unangenehm. Aber der Kellner lächelt strahlend. Dankeschön, sagt er, Herr Handke.
Peter Henisch, Standard, 6.10.2007
Und trotzdem / gerade deshalb. Courage!
Festrede von Peter Henisch anlässlich der Überreichung der österreichischen Kunstpreise 2014 am 20. Jänner 2015.
Lieber Herr Bundespräsident, lieber Herr Minister, liebe Jury, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, sehr geehrte und liebe Gäste! Ist Ihnen das auch schon passiert? Sie sind bei Leuten eingeladen, in deren Wohnung es keine Bücher mehr gibt. Alles da, alles, was der Mensch in unserer fortgeschrittenen Zeit eben so braucht oder zu brauchen glaubt. Kein Zimmer ohne Bildschirme. Kein Kind ohne Playstation. Aber Bücher? Wozu denn?
Glatte Oberflächen. Unwahrscheinlich, dass die Bücher irgendwo dahinter versteckt sind. In Ray Bradburys Buch „Fahrenheit 451“ kommt so etwas noch vor. Dass nostalgische Freaks ihre Bücherregale raffiniert tarnen. Um sie zu enttarnen und die Bücher unschädlich zu machen, rückt die Feuerwehr aus.
Die Feuerwehr, im Originaltext the fire-brigade. Eine schnelle Einsatztruppe, ausgerüstet mit Kerosinkanistern und Flammenwerfern. Sie ist dafür zuständig, Bücher aufzuspüren und zu vernichten. In den Wohnungen, die mir in diesem Zusammenhang einfallen, werden solche Feuerwehreinsätze nicht mehr nötig sein.
Vielleicht haben Sie dieses Buch ja auch einmal gelesen. Fahrenheit 451, das ist die Temperatur, bei der Bücher Feuer fangen. Bücher werden in der Gesellschaft, die der Autor evoziert, für gefährlich gehalten. Bücher können die Menschen irritieren, Bücher können unglücklich machen, in Büchern werden Fragen gestellt, auf die man in der schönen, neuen Welt mit den glatten Oberflächen keine Antworten hat.
Lesen könnte jene Gesellschaft, die im Jahr 1953 – das war das Erscheinungsjahr des Buchs – noch reichlich utopisch erschienen ist, jedenfalls bei uns in Europa, destabilisieren. Eine Gesellschaft, in der die Menschen von Fernsehwänden umstellt sind. In der sie nachts nur mit Hilfe von Pillen schlafen können, weil sie rundherum (und rund um die Uhr) beschallt werden. Kommt uns inzwischen ziemlich bekannt vor, nicht wahr?
Eine Gesellschaft in der vor allem Spaß verordnet wird. Nicht einmal von oben - Bradbury hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass er keineswegs eine Diktatur beschreibt, die da plötzlich die Macht ergriffen hätte. Die Entwicklung dieser Gesellschaft mit ihrer signifikanten Ablehnung von Literatur und Kunst hat sich schrittweise vollzogen. Und dann ist dieses Stadium der Entwicklung eben erreicht und das ist doch genau das, was die Mehrheit in dieser Gesellschaft eben will, denn bis auf ein paar Perverse, die ihr anachronistisches Laster nicht lassen können, sind alle happy.
Sind wir auch bald so weit? Aber woher denn! werden viele sagen. Gerade hier und jetzt wird doch wieder einmal ein Beweis für das Gegenteil angetreten. Da werden Preise für bildende Kunst, künstlerische Fotografie, Video- und Medienkunst, Musik, Film und Literatur verliehen. Und das ist nicht nur erfreulich für jene, die diese Preise bekommen, sondern es ist auch ein Signal der Wertschätzung dessen, was sie tun.
Aber ist es nicht eigenartig, dass der Staat Österreich einerseits einen Preis dafür verleiht, dass sich jemand sein Lebtag – wie in meinem Fall – mit Literatur beschäftigt? Und dass anderseits Literatur etwas ist, mit dem die Lehrkräfte an unseren höheren Schulen ihre Schülerinnen und Schüler künftighin gefälligst weniger belästigen sollen? Vielleicht (ich hoffe das immer noch) ist das ja nur ein Gerücht: Dass mit der Ausrichtung auf die Zentralmatura und die dafür geforderten Normen eine auch nur ein wenig unter die Oberfläche platter Praxisorientierung reichende Beschäftigung mit Literatur oder gar Literaturgeschichte kaum mehr in Frage kommt.
Die Anregungen, die gute Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer ihren Schülerinnen und Schülern durch Auseinandersetzung mit Literatur gegeben haben – die dadurch oft in Schwung gebrachte Entfaltung von Empathie, Fantasie, Kreativität – das war gestern. Unbelehrbaren Lehrpersonen, die glauben, sich diesbezüglich weiterhin engagieren zu müssen, wird die Lust und vor allem die Energie dazu schon noch vergehen. Die haben jetzt genug anderes zu tun, vor allem haben sie Formulare und Fragebögen auszufüllen. Alles muss standardisiert und evaluiert werden, man will ja wissen, ob die Maßnahmen, die man da setzt, zu den erwünschten Ergebnissen führen.
Und das wird schon werden. Wir werden schon sehen! Literatur ist halt mit dem Leben, auf das die Schülerinnen und Schüler ja bekanntlich von der Schule vorbereitet werden sollen, nicht mehr recht kompatibel. Alles andere ist primär – Hans Krankl hat das in einem anderen Zusammenhang gesagt, aber er hat nicht geahnt, wie vielseitig anwendbar dieses inzwischen geflügelte Wort ist. Draußen im Leben, für das die jungen Leute fit gemacht werden sollen, in einer Welt, in der die Wirtschaft diktiert, ist Literatur total nebensächlich.
Und die Kunst – was soll denn das überhaupt sein? Kunst, ja Kunst, hat es im so genannten Volksmund geheißen, als ich noch ein Kind war - kunntst mir net zehn’ Schilling borgen? Kunst war damals ein Synonym für die Existenzweise von Hungerleidern und Schnorrern. An dieser Einschätzung hat sich nicht viel geändert.
Klar, wenn sich jemand aus diesem fragwürdigen Bereich durch Glück und Geschick eine goldene Nase verdient, dann genießt er in der öffentlichen Meinung eine gewisse Akzeptanz. Der ist nämlich clever und weiß sich gut zu vermarkten und das ist, unabhängig von dem, was er so in den Raum stellt oder an die Wand hängt, ein Talent, dem man, oft halb widerwillig und mit einem gewissen Neid, aber letzten Endes doch irgendwie entwaffnet, Anerkennung zollt. Oder wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Rankings vorkommen, auf den Long- oder gar Shortlists zum Deutschen Buchpreis zum Beispiel, so nach dem Muster sieben Österreicher unter den ersten sechs. Dann haben wir sogar die Chance, von einem Team der Seitenblicke erwischt zu werden oder unsere Fotos in der Kronenzeitung vorzufinden.
Aber sonst – also machen wir uns nichts vor! Literatur und Kunst gehören für die so genannten normalen Menschen zu den Orchideenbereichen. Vor ein paar Jahren hat ein fescher Finanzminister, der wusste, worauf es in dieser unserer avancierten Wirklichkeit ankommt, eine Reihe von für ihn unverständlicherweise immer noch an der Uni unterrichteten Fächer als Orchideenfächer bezeichnet. Stimmt schon, dieser stromlinienförmige junge Mann ist heute nicht mehr ganz so populär wie damals, aber was dieses Urteil betrifft, so dürfte ihm die vox populi nach wie vor recht geben.
Wozu etwas unterrichten, was man im praktischen Leben nicht braucht? Um wettbewerbsfähig zu sein, um auf die Überholspur zu kommen und dort zu bleiben. Warum Randexistenzen unterstützen, die sich noch an irgendwelche bisher von flotten Regulierern übersehenen Wurzelstöcke klammern? Während der Mainstream in seinem begradigten Bett an ihnen vorbeifließt.
Machen wir uns und einander nichts vor, lieber Herr Bundespräsident, lieber Herr Minister, liebe Jury, liebe Preisträger- und Preisträgerinnen! Leute, die so was treiben, wie wir, die wir heute in diesem exklusiven Rahmen ausgezeichnet und geehrt werden, was uns natürlich freut, solche Leute sind, durch die Augen des Zeitgeists betrachtet, arme Narren. Was bringt es, was du da machst, was verdienst du denn so damit? haben mich vor ein paar Jahren zwei damals Vierzehn- oder Fünfzehnjährige gefragt. Und als ich ihnen eine realistische Antwort gegeben habe, da haben sie sehr gelacht.
„Die Kunst ist eine Tochter der Freyheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter ihr tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie vor dem lermenden Markt des Jahrhunderts.“
Das sage nicht ich, das schreibt Schiller im zweiten Brief „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“. Oh Gott, Schiller! Das ist doch genau einer von denen, mit denen man die armen Schüler und Schülerinnen von heute schon gar nicht mehr nerven soll. Dem Vernehmen nach beschweren sich Eltern über derlei Zumutungen. Die ästhetische Erziehung des Menschen. Sorgen hatten diese Typen
Wieso fällt mir jetzt der Österreichische Rundfunk ein? Erst die Zentralmatura und jetzt der Rundfunk. Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Schon komisch, was in so einem anachronistischen Kopf zusammenkommt.
Aber da war doch was. Was war das bloß? Ach ja: Es war einmal ein Sender, der hieß Ö 1. Dieses Märchen werden vielleicht schon bald die Opas und Omas ihren Enkelkindern erzählen. Ö 1, liebe Kids. Ein Radiosender. Ein Kultursender, der in ganz Europa kaum seinesgleichen hatte.
Das war aber zu der Zeit, als das Radio noch ein eigenes Haus gehabt hat. Ja, stellt euch vor, so was hat es damals noch gegeben. Und in diesem Haus hatten viele Mitarbeiter des Radios eigene Räume. Das war aber eine Sorte Menschen von gestern oder von vorgestern; die bildeten sich echt ein, dass man zum Nachdenken über die Sendungen, die sie machten, Ruhe und Konzentration brauchte; sogar das ganz und gar obsolete Wort Inspiration führten diese Traumtänzer und Traumtänzerinnen noch im Mund.
Nun hatten aber die Leute, die auf der Höhe der Zeit sein wollten, ganz andere Ideen. Wozu brauchen wir denn ein eigenes Haus fürs Radio? fragten sie, das ist nicht zeitgemäß. Wir legen Radio und TV zusammen, wobei natürlich klar ist, dass das Fernsehen das wichtigere Medium ist. Denn, Hand aufs Herz, irgendwie fehlt den Menschen von heute ganz einfach etwas, wenn, ganz egal wo, kein Bildschirm da ist, auf dem von früh bis spät etwas zappelt.
Aber das nur nebenbei. Also das Fernsehen, das ja schon seit Jahren auf dem Küniglberg thront, wird das Radio, das sein Leben bisher in dieser altmodischen Bude in der Argentinierstraße gefristet hat, künftighin beherbergen. Und natürlich wird dort oben alles megacool ausgebaut, koste es, was es wolle. Und das Haus in der Argentinierstraße wird verkauft, das ist ja wegen seiner, zugegeben sehr günstigen, Innenstadtnähe eine Gewinn versprechende Immobilie. Aber dort oben im rundum erneuerten ORF-Zentrum werdet ihr alle in Großraumbüros oder im multimedialen Newsroom sitzen, das wird doch schön, das wird doch fein, darauf könnt ihr euch doch wirklich freuen.
Aber, ob Ihr es glaubt oder nicht, Kids, die Belegschaft des Senders Ö1 samt den vielen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die dieser Sender hatte, weil dort mitzuarbeiten interessant war, auch unter prekären Bedingungen, diese Spinnerinnen und Spinner freuten sich gar nicht so richtig. Ja, stellt euch vor – so ein undankbares Volk war das. Und sie richteten Botschaften an die Stiftungsräte und den Generaldirektor und dem Vernehmen nach sogar an Parlamentarier, denn der Österreichische Rundfunk, müsst Ihr wissen, war eine Anstalt öffentlichen Rechts. „Den vorwiegend aus dem News-Bereich kommenden Planungs- und Entscheidungsträgern“, schrieben sie, „schwebt durch die räumliche und organisatorische Einbettung in einen Cluster ein Modell vor, das die Identität von Ö 1 (und damit das Programm) schwächen und beschädigen würde“.
Nun weiß ich ja, ehrlich gesagt, nicht so recht, was ein Cluster sein soll, vermutlich wisst ihr, liebe Enkelinnen und Enkel, das besser. Mir gehen diese Wörter aus einer Robotersprache, in der von Entfaltung der Humanität, die einmal ein kulturelles Anliegen war, und vom Geist, der zu so etwas wie Erkenntnis führen sollte, keine Rede mehr ist, zunehmend auf den Geist. Doch ich stelle mit vor, so ein Cluster ist eine Art Abgrund oder ein schwarzes Loch. Und da besteht dann wohl die Gefahr, dass der Sender Ö 1 einfach hinein fällt.
Und dann? fragen die Kids. Was war dann? – Ja, was werden die Großeltern ihren Enkeln dann erzählen? – Dass der Sender Ö 1 natürlich in diesen Abgrund, in dieses schwarze Loch, hineinfiel, und nicht mehr gesehen bzw., da es sich ja um einen Radiosender handelte, nicht mehr gehört wurde? Oder gibt es auch einen alternativen Schluss? Vielleicht den, dass die Verantwortlichen, nachdem sie die Argumente der Ö1- Belegschaft geprüft hatten, einmal ausnahmsweise nicht dem Rat irgendwelcher Betriebsberater folgten, sondern sich ihrer Verantwortung besannen?
Etwa der Verantwortung für die Erfüllung des Kulturauftrags, den sie schon fast vergessen hatten? Ja, denkt euch nur, so was hat es einmal gegeben! Und wo, wenn nicht akkurat in einem Sender wie Ö 1, wurde dieser Kulturauftrag in schöner Selbstverständlichkeit erfüllt? Also das kam den Verantwortlichen jetzt, spät aber doch, immerhin noch zu Bewusstsein, es fiel ihnen, wie man so sagt, wie Schuppen von den Augen, ihre Ohren öffneten sich, und wenn der Sender Ö 1 nicht gestorben ist, so lebt er noch heute, ja vielleicht sogar noch morgen.
Was lernen wir daraus? Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Es ist denkbar, dass sich Menschen, die etwas Wichtiges zu entscheiden haben, den Argumenten derer, die durch ihre Entscheidungen betroffen sind, nicht verschließen. Ja, ob Ihr es glaubt oder nicht, liebe Kinder, es soll vorkommen, dass Wanderer, die sich im Eifer des Voranschreitens ein wenig verrannt haben, ein paar Schritte zurückgehen und die Wegrichtung korrigieren. Nebenbei bemerkt soll auch in Bezug auf die Zentralmatura und ihre Rückwirkung auf den Unterricht in den Oberstufen noch einiges in Gang sein. Schließlich ist ja auch das noch eine Baustelle. Einem diesbezüglichen Artikel habe ich entnommen, dass – so ähnlich hat es dort geheißen – die zuständige Frau Minister sogar die Einwände der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, berücksichtigen will. Echt? fragen die Kids. Ja, sage ich, gelt, da staunt Ihr! Aber das ist, glaube ich, nur in einem Nebensatz gestanden und womöglich hab ich da etwas hinein gelesen.
Aber wo bin ich denn jetzt bloß hingeraten? Sind das nicht lauter Abschweifungen von der mir gestellten Aufgabe? Da hat man mich ersucht, eine Rede zur Verleihung der Österreichischen Kunstpreise zu halten, weil so etwas am ehesten der Job des Preisträgers für Literatur ist, meine Vorgänger Karl Markus Gauss und Robert Menasse haben das ja auch geschafft. Und dann komme ich auf Sachen zu sprechen, die vielleicht gar nicht hierher gehören. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich, als Maturant von vorgestern, in der Schule, eben nicht die entsprechende Kompetenz erworben habe. Und dass ich folglich nicht recht weiß, in welcher Textsorte ich gerade dilettiere. Das soll man nämlich, entnehme ich dem Textsortenkatolog des bifie, also des Bundesinstituts für Innovation und Erziehung, unbedingt wissen, bevor man zu schreiben beginnt. Es könnte sonst passieren, dass man statt Textsorte 9, Feierrede, die der Kategorie Meinungsrede verwandt ist (Definition: geplante mündliche Mitteilung an mehrere Personen), einen offenen Brief schreibt (Textsorte 4) oder einen Leserbrief (Textsorte 5) oder einen Kommentar (Textsorte 7) oder Gott behüte, ein Gedicht.
Also zur Sache: ein bisschen Feierrede soll schon sein. Natürlich freu ich mich, wenn ich einen Preis wie diesen bekomme und darf das wohl auch stellvertretend für die anderen hier und heute Geehrten artikulieren. Lieber Herr Bundespräsident, lieber Herr Minister, liebe Jury, wir freuen uns ja echt! Auch wenn die Preise, zu deren Erhalt sie im Rahmen dieses schönen Aktes uns so freundlich gratulieren, eigentlich schon wieder die Preise vom vergangenen Jahr sind: Kunstpreise 2014.
Wenn diese, wie soll ich es nennen, Verleihungsverzögerung, kein Zufall ist, sondern vielleicht ein Konzept, können wir ihm sogar etwas abgewinnen: Ich meine, die an Kunst und Literatur interessierte Öffentlichkeit wird dadurch vielleicht noch an etwas erinnert, das sie im abgelaufenen Jahr gar nicht recht wahrgenommen hat. Uns hat man das mit der Ehre verbundene Geld immerhin schon im vergangenen Mai angewiesen. Was mich betrifft, heißt das zwar, dass es jetzt schon zur Hälfte oder schon etwas mehr als zur Hälfte weg ist, und ich nehme an, dass es sich bei einigen meiner Kolleginnen und Kollegen hier ähnlich verhält, aber das kommt davon, wenn man in fragwürdigen Verhältnissen lebt, die es einem nicht erlauben, so ein Preisgeld ganz einfach als etwas zum Drüberstreuen aufzufassen und irgendeiner so genannten Anlage hinzuzufügen, sondern als etwas, das man sehr gut brauchen kann oder sogar notwendig braucht, um weiter zu machen.
Und wir werden weiter machen, so lang wir können. Und diese Preise als Ermutigung auffassen. Auch wenn die Verhältnisse rundherum nicht immer ermutigend sind. Wir werden weiter machen, darauf können Sie sich verlassen.
Also Courage, ihr unbeugsamen Lehrerinnen und Lehrer! Und Courage, liebe trotz allem an Literatur interessierten Schülerinnen und Schüler! Courage, ihr tapferen Rundfunkmitarbeiterinnen- und Mitarbeiter! Und Courage, ihr unentwegten Hörerinnen und Hörer! Courage, liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, die Ihr euch nicht unterkriegen lassen wollt! Courage ihr unverbesserlichen Leserinnen und Leser! Courage, ihr alle, die Ihr kreativ und kritisch seid. Courage, ja, gewiss, auch Courage, Ihr Politikerinnen und Politiker guten Willens!
Ihr alle, die ihr noch ein Gespür für das habt, worum es hier geht! Lasst Euch, lassen wir uns nicht entmutigen, wir haben ein sehr wichtige Aufgabe! Nämlich nicht aufzugeben, sondern weiter zu arbeiten. Wenn nötig (und dann erst recht) gegen den Ungeist der Zeit.